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Zum 10. Jahrestag von Tschernobyl und zum „Tag der Arbeit“ 1996

(„Münchner Manifest“)









Erinnern wir uns an Franz-Josef Strauß‘ Worte im Truderinger Festzelt am 2. Juni 1986: Der Ausstieg aus der Kerntechnik ist der Weg von Dummköpfen und Feiglingen. ... Und: Die nachfolgenden Generationen würden Steine auf unsere Gräber werfen, weil wir ihnen ihre Lebenschancen verbaut haben. – Intelligenz und Mut dieses Mannes sind ja sprichwörtlich geworden...

Der Bundeskanzler – selbstverständlich damals derselbe wie heute, denn unser Innovationstempo ist bekanntlich nicht mehr konkurrenzfähig – der Bundeskanzler also war sich schon damals sicher: Die deutsche Atompolitik werde nicht wanken!

Recht hatte er: Vorgestern hat der Bundeswirtschaftsminister wieder beteuert: Der Betrieb und auch der Neubau von Kernreaktoren ist unverzichtbar und verantwortbar!

Ich habe da noch immer Hitlers Stimme im Ohr: Ich übernehme die Verantwortung!

Aber der Vergleich ist unfair. Nach der nächsten Katastrophe wird kein Politiker und keiner von deren Handlangern und Kopflangern Selbstmord begehen. Wie üblich wird es heißen: Nach dem damaligen Stand von Wissenschaft und Technik war mit diesem Ereignis nicht zu rechnen. Es war also überhaupt niemand verantwortlich!

Wer heute das Wort Verantwortung gebraucht, tut dies meist, um sich ihr zu entziehen – wenn auch oft nicht aus Bosheit, sondern aus Trägheit und Dummheit. Die Anführer der Gesellschaft haben noch nicht verstanden, daß wir dank unserem Wissen und Können auch für das verantwortlich geworden sind, was wir nicht wissen, ja nicht einmal ahnen!

Wie kann das sein?

Tschernobyl ist ja nur eines der Untergangssymptome jener globalen Beschleunigungskrise, in die uns der technisch-wirtschaftliche Fortschritt führen mußte. Daß wir innerhalb eines Menschenalters das Klima der Erde zum Umkippen zu bringen drohen – daß wir sogar noch rascher den Ozon-Schutzschild der Erde abbauen, den sich das Leben selbst im Laufe seiner Entwicklung geschaffen hat – daß nun jede Stunde eine bis 10 lebendige Arten aussterben, die für ihre Entstehung Millionen Jahre brauchten – daß wir ebenfalls etwa stündlich eine neue chemische Verbindung „erfinden“, die vorher auf der Erde oder gar im ganzen Universum nicht vorkam – und daß wir viele davon möglichst schnell und weltweit vermarkten und massenhaft freisetzen – all das sind zur Zeit sogar noch gefährlichere, lebensfeindlichere Aktivitäten als die Nutzung der Atomenergie, die ja noch kaum über ihr Geburtsstadium hinaus ist – wenn sich auch Siemens, Stoiber & Kohl eifrig um Fortschritte bei der Zangengeburt des Monsters bemühen.

Ich möchte Sie hier aber nicht gegen die Mächtigen aufhetzen, sondern gegen deren geistige Beschränktheit. Ich möchte ihnen einen Gedanken auf den Weg mitgeben:

Die Untergangssymptome sind nicht dumme Zufälle, sondern ein Hinweis, daß die Menschheit vor dem Höhepunkt einer Krise steht, die nur überwindbar sein wird, wenn eine Mehrheit das Wesen dieser Krise erkennt und aus dieser Einsicht zu neuen Leitideen der gesellschaftlichen Organisation findet.

Das Wesen der Krise liegt darin, daß schnelle globale Neuerungen im Prozeß des evolutionären Fortschritts einen selektiven Vorteil haben – jeder weiß ja, daß das Schnelle das Langsame besiegt, und daß die Organisation im Großen jene im Kleinen verdrängt –‚ daß es aber unüberwindbare Grenzen für die Größe und für die Innovationsgeschwindigkeit gibt. Bei der Größe ist das klar: Globaler als global kann auf der Erde nichts werden.

Und wie ist es mit der Innovationsgeschwindigkeit? Was tun wir, wenn eine Neuerung ein Problem schafft? Die weltweit besten Experten lösen es rasch, nicht wahr? Und die Lösung wird sofort weltweit übernommen. Wie dumm nur, daß Gesellschaft und Lebenswelt so komplex sind, daß durch die Lösung des einen wahrscheinlich zwei oder mehrere neue Probleme entstanden sind – und daß die neuen wahrscheinlich noch etwas weiter ausgreifen und nach noch schnellerer Lösung schreien! Also an die Arbeit, Experten! Und morgen haben wir schon vier neue Probleme – noch ein bißchen größer, und drängender – natürlich.

Der kritische Punkt ist erreicht, wenn die Geschwindigkeit des Problemwachstums ausreicht, um der Mehrheit der Menschen das Wesen dieser Krise im Laufe ihres Lebens bewußt werden zu lassen. Es ist soweit! Bald verstehen es alle – mal abgesehen von Kanzlerrunden, Bundespräsidenten, Stromversorgern, Autoherstellern und dergleichen.

Also klar, worum es geht: Die menschliche Gesellschaft muß sich so organisieren, daß sie gar keine Chance hat, große Katastrophen hervorzurufen. Also derart, daß schnelle globale Entwicklungen verfassungsmäßig behindert sind – außer dem schnellstmöglichen unterlassen des als falsch erkannten, natürlich! Bei vielen unserer dümmsten und katastrophenträchtigsten Unternehmungen würde bekanntlich schon ein Zwang zur privatrechtlichen Versicherung möglicher späterer Folgen ausreichen. Der Untergang Kiews oder Münchens wäre nicht versicherbar!

Alles hoffnungslos? Aber warum denn, wenn die Mehrheit es einmal verstanden hätte? Die Mehrheit bestimmt doch die Politik!

Ach so – die Mehrheit kann ja nicht verstehen, worum es geht. Sie erfährt es kaum, denn die Medien haben meist mehr Interesse an Vernebelung als an Aufklärung. Wir erleben ja gerade in diesen Tagen, wie sie im Verein mit den sogenannten Arbeitgebern helfen, durch ein Trommelfeuer von Schlagworten die sozialen Errungenschaften der letzten hundert Jahre sturmreif zu schießen.

– Wir sollen wieder länger arbeiten! Merkwürdig, nicht wahr? Einige hundert Jahre lang haben wir mit viel Erfindungsreichtum das Ziel verfolgt, daß Menschen nicht mehr so viel arbeiten müssen. Ergebnis: Wir schreien nach Arbeitsplätzen! Können wir denn nicht selbst an dem arbeiten, was nötig wäre? Aber nein, es fehlen die Arbeitgeber!

– Wir hatten zum ersten Mal fünfzig Jahre lang keinen Krieg im Land, und haben angeblich dauernd für wachsenden Wohlstand gearbeitet – und nun können wir uns keine Kindergärten und keine Altenpflege leisten, wir müssen die Renten kürzen und die Universitäten wieder von den Studenten finanzieren lassen. Warum nur?

– Es ist eben kein Geld da, heißt es. Ja – wo ist es denn eigentlich? Noch nie gab es so große Vermögen! Und von der durchschnittlichen Miete fließen z.B. etwa drei Viertel als Zinsanteil ins weitere Wachstum eben dieser Vermögen. Ja, wann immer jemand etwas für sich oder andere tut, wachsen dabei Konten von völlig Unbeteiligten. Und nicht nur Siemens verkündet stolz Rekordgewinne. Warum wird die Gesellschaft als Ganzes dabei ärmer?

– Die globale Konkurrenz zwingt uns zu immer größeren Anstrengungen, heißt es. Wenn wir in diesem Wettlauf nicht vorn sind, gehen wir unter, mahnt uns auch der Bundespräsident immer wieder. Merkwürdig! Was ist denn das Ziel des Wettlaufs? Es gibt keines? Nur schneller muß er werden? Merkwürdig! Das ist doch das Wesen von Instabilitäten! Sie enden im Aufprall...

Aber nein! – diese Instabilität ist ja nicht naturgesetzlich erzwungen. Ihre Macht ist durch falsche wirtschaftliche Ideen organisiert, ist also gewissermaßen eine Geisteskrankheit. Muß es denn etwa so sein, daß eine Minderheit sich die Lebensgrundlagen der Mehrheit anzueignen vermag – und daß dann diese Mehrheit nur noch am Wachstum dieses Vermögens arbeiten kann? Könnte man nicht den Besitz von Lebensgrundlagen anderer Menschen verfassungsmäßig ausschließen - wie es schon bei früheren Formen der Sklaverei gelungen ist?

Falsche Ideen müssen nicht in Absturz und Aufprall untergehen. Sie können schon vorher in den Köpfen zusammenbrechen – wenn die Mehrheit noch rechtzeitig auf die wesentlichen Fragen stößt und dadurch in geistige Unruhe gerät. Dann gibt es auch eine Chance, Antworten zu finden, die lebensfähigere Ideen liefern. Wollen wir daran arbeiten?

Beim sogenannten Energieproblem ist es besonders leicht, konkret zu werden: Unser Energieverbrauch besteht heute überwiegend in Verschwendung. Sparen bringt hier also bei richtiger Verteilung der Lasten und Vorteile zumindest für die ersten paar Jahre niemandem Verlust, sondern jedem Gewinn. Später freilich wird die Arbeit an intelligenteren, zukunftsverträglichen Formen von Angebot und Nutzung zu einem wesentlichen Teil der sogenannten Wirtschaft werden. Da gibt‘s noch viel zu tun! Wichtigstes Wachstumsziel muß zunächst werden, daß wir künftig jedes Jahr drei Prozent weniger verbrauchen als im Jahr zuvor. So werden wir in 50 Jahren bei einem Fünftel unseres heutigen Verbrauchs angelangt sein. Viele vernünftige Studien legen nahe, daß dies reichen wird.

Als mittlere Leistung ausgedrückt ist dann unser Verbrauch an Primärenergie etwa 1 Kilowatt pro Person. Da sich freilich zugleich die arme Mehrheit der Erdbewohner von unten her einem ähnlichen Pro-Kopf-Verbrauch nähern soll, und die Menschheit bis dahin noch immer anwachsen wird, ist der Weltenergieverbrauch dann trotz der genannten Reduktionsstrategie noch derselbe wie heute! Er darf also nicht durch Verbrennung fossiler Energie gedeckt werden, da sonst die Klimaänderung unaufhaltsam wäre. Ebensowenig aber durch Kernenergie! Sonst müßte von morgen an fünfzig Jahre lang jeden Tag irgendwo in der Welt ein neuer Großreaktor ans Netz gehen – und zwar demnächst lauter Schnelle Brüter! Die Verwüstung der Erde hierdurch, wie auch durch den Uranabbau, durch hunderte von Wiederaufbereitungsanlagen und Endlagern und durch die vielen Transporte – das muß ich wohl nicht ausmalen. Schon sich so etwas zuzutrauen ist Verbrechen oder Irrsinn!

Den angeblich so bedrohlichen “technologischen Fadenriß“ müssen wir nicht fürchten. Im Gegenteil: Bei allen als katastrophenträchtig erwiesenen Technologien müssen wir gerade diesen gezielt ansteuern. Wir wollen uns nicht die Option des Irrsinns offenhalten, nur weil es stets hie und da Irre gibt. Der “Energiemix“ unserer Urenkel wird einst fast ausschließlich aus den vielfältigen bis dahin entwickelten Formen der Nutzung von Sonnenenergie bestehen.

Wie nützlich hierfür eine Energiesteuer sein könnte, zeigt ein einfaches Beispiel: Stellen wir uns doch einmal vor, wir wollten nicht mehr Arbeit, Essen, Handel und Dienstleistungen besteuern, sondern statt dessen die als schädlich erkannte Energieverschwendung. Vereinfachen wir die Rechnung und nehmen an, es gäbe nur noch diese einzige Art von “Minderwertsteuer“. Alle anderen Steuern - Einkommensteuer, Mehrwertsteuer, Gewerbesteuer und so weiter – all das wäre abgeschafft und durch eine Steuer auf Primärenergie ersetzt. Wie hoch wäre diese dann? Rechnen Sie es nach: Es wären 20 Pfennig pro Kilowattstunde Primärenergie!

Ich schlage nicht vor, so etwas über Nacht Gesetz werden zu lassen. Aber das Beispiel zeigt die Hebelkraft einer Energiesteuer zur Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen. Wir sind also den sogenannten Sachzwängen nicht hilflos ausgeliefert. – Daß außer dem Steuerrecht auch wesentliche Züge des Geld- und Eigentumsrechts zu ändern wären, ist klar – aber auch dies kann ja eine qualifizierte Mehrheit in der Demokratie erreichen.

Natürlich müßten wir uns dann demnächst immer weniger von etwa noch begriffsstutzigeren Nachbarn verführen oder zwingen lassen, ihren angeblich billigen Atomstrom zu kaufen oder ihre fossilen Lagerstätten auszubeuten. Und wir sind auch keineswegs darauf angewiesen, anderen Ländern Dinge zu liefern, die man sich dort ebensogut selbst schaffen könnte. Der Welthandel wird beträchtlich schrumpfen, und eine ganz andere Art von Konkurrenz wird sich entwickeln: Wer schafft es, seine Kinder glücklicher, sein Zuhause immer schöner und lebenswerter zu machen, ohne andere Menschen oder die Natur ausbeuten zu müssen?

Da wären wir also doch wieder in einem Wettlauf ohne Ziel, denn ein Ende solcher Bemühungen wäre wohl kaum abzusehen, nicht wahr? Sollten wir uns nicht darum bemühen, daß unser Land einer der führenden Standorte gesellschaftlicher und ökologischer Vernunft wird, und in der Freiheit für seelische und geistige Entwicklung seiner Bürger ein Beispiel für andere, die nicht ganz so schnell vorankommen? Aber sehen Sie – damit wären Konkurrenz und Wettlauf endlich an jene Front verlagert, wo sie längst hingehören – an jene Front nämlich, der uns die geistigen Führer der Menschheit seit Jahrtausenden näherzubringen versuchten.

Also, laufen wir los!