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Impressum



Peter Kafka, Das Grundgesetz vom Aufstieg



Das Grundgesetz vom Aufstieg
Vielfalt, Gemächlichkeit, Selbstorganisation
Wege zum wirklichen Fortschritt


München Wien 1989 (Hanser); 168 Seiten; ISBN 3-446-15741-7

Verzweiflung angesichts der kranken Welt, Katastrophenstimmung überall, resigniertes Sichfügen in den ökologischen Niedergang, ohnmächtiges Stückwerk im politischen Handeln, Hoffnungslosigkeit bis zur Devise, daß die Natur beim Versuch, mit dem Menschen ein vernünftiges Wesen hervorzubringen, gescheitert sei: Ist diese Diagnose das letzte Wort? Sollen wir mit zynischem Sarkasmus dem lieben Gott seine mißratene Welt vor die Füße werfen? Sollen wir uns in Würde, noch ein letztes Apfelbäumchen pflanzend, auf das Ende vorbereiten?



In der Perspektive der Kosmologie, der Evolutionstheorie und Anthropologie weist Peter Kafka auf, daß das Geheimnis der Evolution, dem auch der Mensch seine Freiheit und seinen inneren Reichtum verdankt, in den Prinzipien der Vielfalt, Gemächlichkeit und Selbstorganisation besteht. Würden diese Prinzipien als unabdingbare Voraussetzungen für ein Wachstum ohne Zerstörung, für einen Fortschritt zu reicheren und wertvolleren Strukturen erkannt und anerkannt, dann wäre es möglich, den Teufelskreis zu durchbrechen, die Symptome neu zu sichten, eine treffendere Diagnose zu stellen und eine rettende Therapie einzuleiten, die uns und unserer Welt die Regeneration und einen neuen Aufstieg beschert. Die Evolution hat in uns, in den Gestalten, die die Krise herbeiführen mußten, auch die Fähigkeit entwickelt, sie zu überwinden. Die Revolution, die wir leisten müssen, muß haltbare Schranken setzen, die künftig verhindern, daß die Bedingungen der Evolution verletzt werden. Dann, allerdings nur dann, wird das Rettende, mit der Gefahr gewachsen, auch eintreten.




Inhaltsverzeichnis







Einleitung








1.


Fortschritt – was ist das eigentlich?








2.


Vom Urknall zur Wachstumskrise
Komplexität und Kompliziertheit
Möglichkeiten aus dem Nichts?
Gestalt oder Chaos?
Galaxien und Sterne – Zweiter Hauptsatz und Entropie – Selbstorganisation
Von Gaia zum Forschungsminister
Evolution durch Revolution?








3.


Selbstheilung durch Emanzipation
Das Werden der Freiheit
Das Grundgesetz des Ausstiegs
Emanzipation von der Großen Politik
Emanzipation von wirtschaftlicher Entwicklung
Emanzipation von Wissenschaft und Technik
Geduld oder Gewalt?








4.


Wohin ohne Ziel?










Leseprobe





Einleitung






Unsere Welt ist krank. Das ist nicht der Befund eines über sie geneigten Arztes, sondern ein sicheres Gefühl in uns selbst, in uns als den am höchsten entwickelten Organen dieser Welt. Und von uns selbst geht die Krankheit aus. Eine kleine, irgendwo in uns versteckte Fehlinformation hat uns vergessen lassen, daß Organe Teile eines Ganzen sind und diesem auch dienen müssen. Wie die Krebszelle, die durch einen winzigen Fehler in der Erbinformation ihres Kernes vergessen hat, welchen Platz sie im Organismus hat, und die nun kein höheres Ziel mehr kennt als die möglichst rasche Vermehrung ihrer selbst und ihres vordergründigen Wohlergehens, so haben auch wir zu wuchern begonnen. Der Stoffwechsel unserer Wirtschaft hat sich grenzenlos ausgedehnt, und so verdrängen wir nun immer mehr andere Organe der lebendigen Erde.

Die Tumoranalogie ist frappierend: Es ist nicht so sehr die Erschöpfung der Ressourcen, durch die schließlich der Tod einzutreten droht, denn noch lange ließe sich genügend Nahrung und Energie fürs Weiterwuchern heranschaffen – nein, es ist vor allem das andere Ende des gewaltig gesteigerten Stoffwechsels, wo der Zusammenbruch sich ankündigt: Die Menschen haben durch die Ausscheidungsprodukte ihrer Wirtschaft die wichtigsten Senken bald bis zum Rande gefüllt. Luft, Wasser und Boden können uns nicht mehr „entsorgen“. Waldvernichtung, Ozonloch, Treibhauseffekt, Verschmutzung der Meere, Erosion und Versauerung oder Versalzung der Böden, beschleunigtes Artensterben in aller Welt, weiter explosionsartig wachsende Städte mit 15 Millionen Einwohnern (bei denen man aber kaum von „wohnen“ sprechen kann und für die es großenteils „nichts zu tun“ gibt), alle zwei Sekunden der Hungertod eines Kindes, und dennoch innerhalb meiner eigenen Lebenszeit fast eine Verdreifachung der Erdbevölkerung – dies sind zwar für viele von uns noch immer leicht verdrängbare Symptome, wie ein ständiges schwaches Jucken. Doch wer tiefer schaut, sieht längst, wie es unter die Haut geht, wie sich unsere Metastasen schon bis in den letzten Winkel der Erde ausbreiten, den ganzen Organismus mit ihren Giften überschwemmen.

Die Krankheit kam nicht plötzlich. Schon im erwachenden Bewußtsein der frühesten Menschen mag sie sich angekündigt haben, erfahren als die Vertreibung aus dem Paradies. Die Propheten aller Zeiten und Völker warnten vor ihrem weiteren Fortschreiten, wenn sie auch die Symptome des einstigen Spätstadiums noch kaum ahnen konnten. Dann gewöhnte man sich allmählich an diesen Fortschritt, oft ohne großes Leiden. Wir haben nur noch verschwommene Erinnerung an Gesundheit – in Resten uralter Traditionen und aus Träumen, aus der Kindheit, vielleicht aus der Erfahrung von Liebe. Doch nun pocht der Schmerz, das alte Warnsignal, unüberhörbar. Spürbar schwindet die Lebenskraft. Der Niedergang scheint unaufhaltsam. Trauer und Zorn mischen sich. Sollen wir in Depression und Haß versinken? Sollen wir mit zynischem Sarkasmus dem lieben Gott seine mißratene Welt vor die Füße werfen? Sollen wir uns in Würde auf das Ende vorbereiten? Oder wollen wir uns noch einmal aufbäumen, die Symptome neu sichten, eine treffendere Diagnose stellen, vielleicht gar die kleine Fehlinformation an der Wurzel aufdecken, eine rettende Therapie einleiten, unserer Welt Regeneration und neuen Aufstieg ermöglichen? Wer Kindern in die Augen schaut, weiß die Antwort.

Sie sehen schon: Dies wird kein Sachbuch im heute üblichen Sinn. Es soll nicht einen Bereich der Welt herausgreifen und den Leser über diesen unterrichten. Unsere ganze Welt ist das Thema, und sie ist wohl nicht einmal für Juristen eine „Sache“.

Wir werden uns also der Welt nicht gegenüberstellen, wie das die Wissenschaft zu tun pflegt, sondern auch nach der „Ganzheit“, nach dem „Umgreifenden“ Ausschau halten. Tausende von Generationen vor dem wissenschaftlichen Zeitalter haben dies getan, sicher nicht mit weniger Begabung als wir, und ihre Einsichten sind in die Sprachen und ihre Mythen eingegangen. Manches davon möchte ich mit einiger Übersetzungsarbeit für uns retten oder wiedergewinnen, indem ich es so zu formulieren versuche, daß Widersprüche zu wissenschaftlichen Einsichten sich in neuer Sprache auflösen können. Ich will einen einfachen Gedanken hin- und herwenden, bis er jeder Weltanschauung einleuchten kann. Er soll die „kleine Fehlinformation an der Wurzel“ aufdecken helfen, jenes aus kindlichem Größenwahn geborene Mißverständnis: Wer die Grundgesetze der Natur entdeckt habe, der könne nun in Eile die Welt verbessern.

Da ich mich beruflich mit der physikalischen Beschreibung der Welt beschäftigt habe, werden freilich wissenschaftliche Ergebnisse durchaus eine Rolle spielen. Auch die Denkweise und die illustrierenden Bilder sind oft davon beeinflußt. Aber es kommt mir nirgends auf wissenschaftlichen Wahrheitsbeweis für meine Aussagen an. Alles was ich durch die Wissenschaft erfahren habe, wird vielmehr durch meine eigene Person reflektiert oder gebrochen erscheinen. Doch deshalb muß das, was ich zu sagen habe, nicht so beliebig sein, wie es vielleicht der Postmoderne anstünde. Mein Denken ist altmodisch und langsam – noch immer mit der Aufklärung beschäftigt oder mit deren Recycling, wie ich es einmal nannte. Aber es hat sich in fünf Jahrzehnten beim Anschauen der Welt unter dem Zwang entwickelt, aus jener Wut und Trauer doch Hoffnung zu schöpfen, und es erhält dadurch eine gewisse Verläßlichkeit und Widerstandsfähigkeit, wie ein sorgfältig geflochtenes Rettungsfloß, eine Art schwimmender Insel – aber nur in dem Sinn, daß es hoffentlich Menschen, die von hier aus weiterdenken wollen, nicht in einem Sumpf von Beliebigkeit versinken lassen wird. Mancher mag über meinem scheinbaren „Materialismus“ oder „Reduktionismus“ ungeduldig werden. Wer noch in geistigen Traditionen aufwachsen konnte und darin geborgen blieb, wird staunen, warum er bei der Geschichte von Raum, Zeit und Materie beginnen sollte, um etwas über das eigene Wesen und seine eigene Aufgabe zu lernen, die er doch längst offenbart glaubt. Wer allerdings sieht, wie wenig die geistigen Traditionen den sogenannten Materialismus an der Eroberung der Welt und nun vielleicht an ihrer Zerstörung hindern konnten, der ist vielleicht doch geneigt, sich einmal in ein „wissenschaftliches Weltbild“ hineinversetzen zu lassen und in ihm neue Erfahrungen zu machen.

Meist werde ich nicht der Herkunft meiner Gedanken und Formulierungen nachgehen. Sicherlich ist vieles davon vorher, gleichzeitig oder nachher auch von anderen gedacht worden, doch selbst, wo mir dies ausnahmsweise bekannt ist, werde ich nichts zitieren. Es soll eine Collage entstehen, die als Gesamtbild ihren Wert hat, nicht durch die in ihr verwendeten, verwandelten, Materialstückchen. Das als Nachweis von Wissenschaftlichkeit geltende Zitieren von Quellen ist ohnehin oft eine Farce – dann nämlich, wenn es sich nur um Meinungen handelt, die eine eigene Meinung stützen sollen. In der Mathematik und den exakten Naturwissenschaften gibt es für hinreichend simple Aussagen tatsächlich Beweise, auf die man sich berufen darf, um sie nicht stets wiederholen zu müssen, wenn man auf ihnen weiter aufbauen will. Doch sobald der Gegenstand komplexer wird, hört die Verläßlichkeit auf. In den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, die sich damit einen exakten Anstrich geben wollen, knüpft das Zitieren genaugenommen wohl eher an traditionelle Vorstellungen von Heiligen Schriften und begnadeten Autoritäten an. Zwar will kaum noch ein Wissenschaftler solche anerkennen, aber ein bißchen wärmt doch jeden die Hoffnung, er selbst erwerbe einen Hauch unantastbarer Heiligkeit, wenn andere ihn zitieren. Um dies zu erreichen, zitiert er zweckmäßig ebenfalls andere, und so kommt es, daß schließlich die ganze Wissenschaft einen Schein von Heiligkeit um sich hat. Diesen möchte ich hier nicht verstärken.

Ich will Sie auf Gedanken stoßen, zu denen auch Ihnen, ganz ohne Wissenschaft, etwas einfallen kann. Lesen Sie das Buch also bitte eher als eine Art Feuilleton. Und in der Tat beginnen wir mit dem Wiederabdruck eines Zeitungsartikels. Im Januar 1988 hatte Christian Schütze, seit langem engagierter Streiter für eine vernünftigere Umweltpolitik, in der Süddeutschen Zeitung einen Aufsatz mit dem Titel Das Grundgesetz vom Niedergang veröffentlicht, in dem er darstellen wollte, warum alles menschliche Wirtschaften am Entropiesatz, also dem „Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik“ scheitern müsse.* Damit löste er bei vielen Lesern tiefen Pessimismus aus oder bestätigte ihn, wo er ohnehin schon eingekehrt war. Er regte mich damit zu einer Antwort an, in der ich Gedanken zusammenfaßte, die ich seit vielen Jahren in Vorträgen, Aufsätzen und Büchern darzustellen versucht hatte, um dem zunehmenden Pessimismus fast aller Sensiblen entgegenzuwirken.**






* Christian Schütze hat diesen Aufsatz inzwischen zu einem Buch erweitert, das unter dem Titel Das Grundgesetz vom Niedergang – Arbeit ruiniert die Welt 1989 im Carl Hanser Verlag erschienen ist.






** Dieser Aufsatz erschien in der Süddeutschen Zeitung vom 7./8. Mai 1988 unter dem Titel Das Gesetz des Aufstiegs. Fortschritt – was ist das eigentlich?.












Von Gaia zum Forschungsminister



Auszug (Seite 59 ff)



(Vergleiche: Kernfragen: Wirtschaftswachstum und Energiepolitik)






Wie die Welt es schaffte, uns Menschen hervorzubringen, die wir nun alles besser machen wollen, das sehen wir uns am besten noch einmal ganz knapp in dem beliebten Zeitrafferfilm an, den auch ich zur Veranschaulichung benutze, seit ich über die »Weltgeschichte« rede und schreibe. Ich zitiere mich hier teilweise selbst aus dem Vortragstext Einfalt und Vielfalt – Über das Wesen der Energie- und Wachstumskrise (nachgedruckt z. B. in meinem Briefwechsel mit Heinz Maier-Leibnitz, zuletzt in der Neuausgabe unter dem Titel Kernenergie – Ja oder Nein?, München 1987).

Drängen wir die Geschichte der Welt vom Urknall bis heute auf ein Jahr zusammen.

Der Einfachheit halber sei jeder Monat eine Milliarde Jahre. Etwa eine Woche braucht die Sonne zum Umlauf um das Zentrum unserer Milchstraße, ein Tag sind fünfunddreißig Millionen Jahre, eine Stunde also eineinhalb Millionen Jahre, eine Minute etwa fünfundzwanzigtausend Jahre und eine Sekunde knapp vierhundert Jahre. Etwa eine Zehntelsekunde in diesem Weltjahr hat jeder von uns Zeit, selbst an der Front der Evolution mitzutasten und mitzuwählen.

Betrachten wir die uns bekannte Weltgeschichte in diesem Zeitraffer.

Es ist Silvester. Wir stehen hier, mit Sektgläsern in den Händen, und warten auf den Gong, der das neue Jahr verkündet. Genau vor einem Jahr begann alles mit dem Urknall. Lassen wir dieses Jahr schnell noch einmal vor unserem inneren Auge vorübergleiten, wie dem Sterbenden noch einmal sein Leben vorübergleiten mag.

Wie war das alles?

Vor genau einem Jahr war all das, was wir jetzt vom Universum sehen, ganz dicht bei uns, vielleicht in einem einzigen Punkt mit uns. Der Urstoff, eine Strahlung, die den Raum gleichmäßig und mit ungeheurer Dichte und Temperatur erfüllte, besaß noch keinerlei Struktur, aber durch den Schwung der geheimnisvollen Urexplosion dehnt er sich seither gegen seine Schwerkraft aus und kühlt sich dabei ab. Nun erzwingen die Naturgesetze – was immer das ist – und die Regeln der Statistik die Entstehung und Entwicklung von Strukturen. Schon in einem winzigen Bruchteil der ersten Sekunde des 1. Januar entsteht die Materie. Spätestens am 2. Januar gewinnt sie die Oberhand über die sich rascher verdünnende Strahlung, und die Temperatur sinkt unter einige tausend Grad, so daß Klumpenbildung und damit die im vorigen Kapitel geschilderte astrophysikalische Strukturbildung einsetzt. So entstehen noch vor Ende Januar die Galaxien und in diesen die ersten Sterngenerationen. Nun brauen die Sterne in ihren zentralen Atomreaktoren die höheren chemischen Elemente. Sterbende Sterne reichern das sie umgebende Gas damit an, zum Teil auch in Form von Staub. Die Gesetze der Kernphysik sorgen dafür, daß Kohlenstoff besonders häufig wird. Atom- und Molekülphysik sorgen für den Aufbau schon ziemlich komplexer organischer Moleküle in den Staub- und Gaswolken um junge Sterne.

Nun ist also schon mehr als das halbe Jahr vergangen, da ballt sich Mitte August aus einer zusammenstürzenden Wolke von Gas und Staub unser Sonnensystem. Schon nach einem Tag ist die Sonne etwa im gleichen Zustand wie heute und versorgt ihre Planeten etwa bis zum Sommer des nächsten Jahres mit einem ziemlich konstanten Strahlungsstrom von etwa sechstausend Grad Temperatur. Da der übrige Himmel dunkel und kalt ist, kann die Erde die so empfangene Energie bei tieferer Temperatur wieder abstrahlen, und so setzt nach den Gesetzen der Selbstorganisation dissipativer Systeme komplexere Strukturbildung ein. Unter den gegebenen Bedingungen und Naturgesetzen führt hier das Abtasten des Raumes der Möglichkeiten zur chemischen, biologischen und schließlich zur kulturellen Evolution – immer nach Darwins Regeln: durch Konkurrenz in Vielfalt.

Von Mitte September stammen die ältesten Gesteine der heutigen Erdoberfläche, und schon in ihnen finden sich die ersten erhaltenen Lebensbeweise: fossile Einzeller. Nur wenige Wochen also hat es gedauert, bis die noch relativ primitive »Sprache« katalytischer Prozesse der organischen Chemie durch die Entwicklung des genetischen Code überflügelt wurde. Die Ausdrucksfähigkeit der auf ihm aufbauenden Sprache entwickelt sich schnell weiter. Schon von Anfang Oktober finden wir fossile Algen. Es beginnt die allmähliche Anreicherung der Atmosphäre mit Sauerstoff aus der Photosynthese – also durch Spaltung von Kohlendioxid mit Hilfe von Sonnenenergie. Durch den entstehenden »Ozonschild« wird das ultraviolette Licht geschwächt, und so läßt sich noch empfindlicheres Leben verwirklichen. Die Atmung wird entwickelt, immer komplexere innere Zellstrukturen entstehen – teilweise vielleicht durch »Endosymbiose«, also durch Aufnahme vorher »selbständiger« Lebewesen als Organe von höheren. Aber genaugenommen kann man ohnehin nur von relativ größerer oder kleinerer »Selbständigkeit« sprechen, denn alles entwickelt sich in vielfältigsten Wechselwirkungen gemeinsam. Im Oktober wird die Vielzelligkeit entwickelt und wohl auch schon die Sexualität – ein Vermehrungsverfahren, bei dem die zufälligen Mutationen viel schneller in einer großen Population verbreitet werden können.

Die ersten zwölf Tage des Dezember bezeichnen die Geologen als Präkambrium. Eine gewaltige Artenvielfalt entwickelt sich im Meer. Die ersten Tiere tauchen auf, zunächst nur die niedrigsten: Würmer und Hohltiere. Im Kambrium, vom 13. bis 16. Dezember, finden sich schon Muschel- und Schneckenarten. Im Silur, vom 17. bis 19. Dezember, erscheinen die Ammoniten, aber schon an seinem Anfang auch die ersten Wirbeltiere: Urfische. Dann kommen die ersten Pflanzen aufs Land: Nacktfarne. Schnell erobern sie alle Kontinente, und die Atmosphäre erreicht den heutigen Sauerstoffgehalt. Im Devon, am 20. und 21. Dezember, sind die Landmassen bereits von Wald bedeckt. Schachtelhalme, Bärlappgewächse und Farne herrschen vor, aber schon tauchen auch die ersten Samenpflanzen auf. Aus Lungenfischen entstehen Amphibien, die die Küsten und feuchtes Land erobern. Skorpione, Tausendfüßler und Spinnen erscheinen in den Wäldern. Im Karbon, am 22. und 23. Dezember, gesellen sich zu den riesigen Farnen und Schachtelhalmen, aus denen sich unsere Steinkohlenlager bilden, auch die ersten Nadelbäume, umschwirrt von libellenartigen ersten Insekten. Aus Amphibien entstehen Reptilien, die nun auch das trockene Land besiedeln. Der 24. Dezember, die Permzeit, ist noch von Baumfarnen und Gingkobäumen beherrscht, doch schon am Morgen des Weihnachtstages beginnen die Nadelwälder, sie abzulösen. Erste Saurier sind da. Reptilien erobern das Wasser und die Luft. Das warme Blut wird erfunden. Bis zum Ende des Trias, am Abend des 26. Dezember, gibt es schon viele niedrige Säugetiere, die aber noch Eier legen. Im Jura, von der Nacht zum 27. bis zum Mittag des 28. Dezember, entfalten sich die Saurier weiter in den Meeren und in der Luft. Auch Haie erscheinen, die ersten Dinosaurier und die ersten Vögel. Die Säugetiere, nun vor allem Beuteltiere, führen noch immer ein Kümmerdasein. (An dieser Stelle pflege ich zu sagen: In Nischen, verborgen vor den Mächtigen, wird die Intelligenz vorbereitet…) In der Kreidezeit schließlich, vom Mittag des 28. bis in die ersten Stunden des 30. Dezember, wird die Pflanzen- und Tierwelt der »modernen« immer ähnlicher: Blütenpflanzen und Insekten entfalten ihre phantastische Vielfalt, und die Säugetiere und Vögel übernehmen die Macht von den Drachen. Etwa um vier Uhr früh am 30. Dezember ereignet sich die Katastrophe (vielleicht der erwähnte Einschlag eines Asteroiden von der Größe des Montblanc), mit der die Kreidezeit in den Tertiär übergeht. Zugleich beginnt die Auffaltung der großen Gebirge unserer Zeit.

Bis jetzt ist die biologische Information stets in den Genen, also Nukleinsäuremolekülen, gespeichert. Erst an den beiden letzten Tagen des Jahres wird die Speicherung in komplexen Eiweißstrukturen des Gehirns benutzt, um über diese genetische Fixierung wesentlich hinauszugehen. Die Verflechtungsmöglichkeiten von Neuronen im Gehirn bieten dem Drang nach Komplexität völlig neue Ausdrucksmittel: Das Lernen wird wichtig, Seele und Geist können sich entwickeln.

In der Nacht zum 31. Dezember, vergangene Nacht, entspringt der Menschenzweig dem Ast, der zu den heutigen Menschenaffen führt. Nun bleibt uns ein Tag, um uns selbst zu entwickeln. Mit etwa zwanzig Generationen pro Sekunde erscheint dies nicht schwierig. Aber unser Werdegang ist dürftig dokumentiert. Erst von etwa zehn Uhr am Silvesterabend stammen die Skelettreste der Olduvaischlucht in Ostafrika. Fünf Minuten vor zwölf leben die Neandertaler. Ihre Gehirne sind schon vergleichbar den unseren. Zwei Minuten vor zwölf sitzen wir ums Feuer, stammeln und winseln und klatschen rhythmisch in die Hände, bemalen die Wände unserer Höhlen mit Bildern unserer Beutetiere und legen Waffen oder Honig und Körner in die Gräber unserer Väter. Die Blütezeit der Sprachen, und damit der Kulturen, bricht an. Seit fünfzehn Sekunden wird die Geschichte Chinas und Ägyptens überliefert, fünf Sekunden vor zwölf wird Jesus Christus geboren. Eine Sekunde vor zwölf beginnen die Christen gerade mit der Ausrottung der amerikanischen Kulturen.

Oh – da ist schon der Gong! Prost Neujahr! Was wird es bringen?

Keine Zeit, auch nur über die nächste Sekunde nachzudenken! Denn nun geht‘s erst richtig los. Die wachsende Populationsdichte und die Höherentwicklung der Wechselwirkungsmöglichkeiten, also der »Sprachen«, hat offenbar die Evolutionsgeschwindigkeit immer mehr beschleunigt. Eine gewöhnliche Uhr kann jetzt das Tempo des Fortschritts nicht mehr messen. Da brauchen wir schon Präzisionsinstrumente. In der letzten hundertstel Sekunde ist die Erdbevölkerung schon wieder um eine weitere Milliarde gewachsen. Und erst der Wohlstand! Wenn auch natürlich nicht für die zuletzt hinzugekommenen paar Milliarden. Bis auch diese voll mit einsteigen können, müssen wir alle erst noch tüchtig weiterarbeiten!

Doch bevor in der Glocke, die das neue Jahr einläuten soll, der Klöppel die Wand trifft und den ersten Ton erzeugt, werden wir alles Öl verpufft haben, das uns die Sonne während der letzten Wochen speichern half. Der Raubbau an der toten und an der lebendigen Erde geht immer schneller, immer mehr Ressourcen werden erschlossen, immer mehr Senken füllen sich. Müll wird nun schon auf Deponien zu Südseeinseln verschifft. Kein Wunder, denn wo man ihn in der eigenen Nachbarschaft verbrennt, wie wir das hierzulande tun, da reichert man Luft, Boden und Wasser mit den lebensfeindliebsten Giften an, die wir bisher kennen – z.B. mit Dioxinen. Mütter dürften eigentlich nicht mehr ihre Kinder stillen – aber wir planen immer mehr Müllverbrennungsanlagen. Müll zu vermeiden ist ja noch so unendlich viel schwieriger als Kinder zu vermeiden! Auch darf man den Beitrag des Mülls zum Bruttosozialprodukt nicht unterschätzen. Und Müll sichert Arbeitsplätze! Was alles zu tun ist! Millionen von Tonnen chemischer Verbindungen werden durch Landwirtschaft, Industrie und Abfallbeseitigung in die Biosphäre eingebracht. Hunderttausende von neuen Stoffen sind dabei, die es zuvor nur im Raum der Möglichkeiten gab – nicht aber in der Wirklichkeit. Und weltweit werden radioaktive Nuklide verstreut, die ebenfalls seit der Entstehung der Erde hier nicht vorkamen. Wieviel reicher wird die Welt!

Nicht nur Flüsse, Seen und Randmeere sind voller Dreck und Gift, sogar die Ozeane geraten aus dem Gleichgewicht. Die menschliche Wirtschaft bringt insgesamt schon mehr Schwermetalle in Boden, Luft und Wasser ein, als die natürlichen Verwitterungsprozesse in der gleichen Zeit es schaffen – ganz zu schweigen von den extremen lokalen Konzentrationen solcher Gifte gerade dort, wo viele Menschen leben. Die Wälder der Erde werden abgehauen. Aus den wertvollsten Hölzern baut man vielleicht Lärmschutzwände. Oder sie werden einfach niedergebrannt, um wieder ein paar Jahre lang Weiden für Rinder zu haben. (Bald brauchen schließlich fünf Milliarden Menschen täglich ihren Hamburger.) Freilich ist das Land ungeeignet und bald erschöpft, aber das macht nichts – es gibt ja noch Neuland. Gerade dort allerdings, wo man Wälder gern erhalten will, da beginnen sie abzusterben. Die »neuartigen Waldschäden« bieten interessante Forschungsarbeit für Biologen. Mehr als Ausgleich für den Verlust an lebenden Arten, von denen nun etwa stündlich eine für immer von der Erde verschwindet! Die letzten noch unangetasteten Gebiete der Erde werden in den Fortschrittstaumel einbezogen. Auch die Muttermilch der Eskimos und der Reste anderer »Naturvölker« ist schon vergiftet. Gaias Kreisläufe versorgen sie mit vielen Errungenschaften der Kulturvölker, sogar bevor diese ihre gewaltigen Ausbeutungsmaschinen dort einziehen lassen.

Und nun wird auch noch das Gleichgewicht der ganzen Erdatmosphäre gestört.

Gaias globale Regelungsmechanismen für den Sonnenenergiehaushalt beginnen zu versagen. Einerseits wird die stratosphärische Ozonschicht abgebaut, die das höhere Leben auf der Erde erst ermöglichte, weil sie das ultraviolette Licht zurückhält, andererseits werden immer mehr und immer neue Gifte (darunter auch Ozon!) in der unteren Atmosphäre angereichert, wo sie die Wälder, die Atmungsorgane der Atmosphäre und alles andere Leben schädigen. Doch noch bedrohlicher: Vielerlei Spurengase, wie Kohlendioxid, Methan, Lachgas und Fluorchlorkohlenwasserstoffe, vor allem als Ausscheidungen der höheren Zivilisation in die Luft gelangt, lassen die Wärmestrahlung nicht mehr so gut hinaus. Allein das, was wir in den letzten Jahrzehnten freigesetzt haben, wird die Temperatur vorerst unaufhaltsam weiter ansteigen lassen. Wie die empfindlichen Regelkreisläufe des Klimas und der Meeresströmungen darauf reagieren werden, ist noch nicht absehbar. Aber es ist klar, daß Katastrophen nicht auszuschließen sind: Überflutung der Küstenländer, Verdorren der fruchtbarsten Landstriche, Zusammenbruch der Ernährungsgrundlage ganzer Völker. Panik von Millionen, ja fast Milliarden Verhungernder beginnt man sich auszumalen; Rache an den Industrieländern und internationalen Konzernen, die all dies auf dem Gewissen haben … Ja, wenn es ein Gewissen von Staaten und Konzernen gäbe!

Aber nun sollen auch noch die letzten arktischen Einöden und der eisbedeckte antarktische Kontinent wirtschaftlich erschlossen und ausgebeutet werden. Was könnte man auch dagegen unternehmen! Niemand traut sich zu, dies verhindern zu können. Immer noch ist es nicht genug. Es müssen ja auch noch ein paar Milliarden Menschen mehr werden. Und eines Tages soll jeder der zehn Milliarden Erdenbürger jährlich zehntausend Kilometer Auto fahren und zehntausend Kilometer fliegen – nicht wahr? Alle sollen in Saus und Braus leben, wie wir. Schon die Gerechtigkeit erfordert es, daß alle Zugang zu diesem unserem überlegenen System erhalten.

Alles im Namen der Krebsparole: Immer schneller, immer mehr vom Gleichen! Wie dumm nur, daß diesmal die evolutionäre Überlegenheit nicht Langlebigkeit bedeutet, sondern Zusammenbruch. Das ist das Wesen großer Instabilitäten: Sie bewirken ein Gefühl der Gleichheit in ihrer Umgebung, überzeugen die gesamte Nachbarschaft, daß es effektiver ist, sich dem wohlgeordneten Strom anzuschließen, ziehen soviel wie möglich mit sich in den Strudel des Untergangs.

Die Antriebe dieser Instabilität sind die scheinbar erfolgreichsten jüngeren Errungenschaften der Evolution des Lebendigen: die Wissenschaft und Technik einerseits und die Wirtschaft andererseits. Beide stellen selbst Evolutionsprozesse dar, mit gewissen Eigengesetzlichkeiten, aber auch in starker Wechselwirkung untereinander und mit den übrigen menschlichen Aktivitäten.

Die Grundidee von Wissenschaft und Technik ist: Wenn wir verstehen, welchen Gesetzen die Materie in all den verschiedenen Gestalten in Raum und Zeit folgt, so können wir solche Gestalten nicht nur bei Bedarf nachahmen, sondern sogar viel nützlichere Kreationen erschaffen und unbegrenzt vervielfältigen.

Die Grundidee der Wirtschaft aber ist: Wenn wir mehr produzieren und verkaufen können, also auch mehr Geld fürs Kaufen haben, geht es uns immer besser, und die Welt wird dabei immer wertvoller. Schließlich besteht ja die gesamte Produktion aus »Gütern«. Schon der Name sagt, daß nichts Schlechtes dabei sein kann. (…)