Zur Sache
Lüge ist ein hartes Wort. Wer einen anderen der Lüge bezichtigt, muß mit Beleidigungsklage rechnen. Den Lügenvorwurf so zu erhärten, daß er auch Richtern berechtigt erscheint, ist ein fast unmögliches Unterfangen. Zur Lüge gehört ja, daß die Unwahrheit bewußt, also wider besseres Wissen, und im vollen Besitz der geistigen Kräfte gesagt oder geschrieben wurde. Und wie läßt sich schon nachweisen, daß jemand überhaupt geistige Kräfte besitzt – und gar die vollen? Wer gute Anwälte und angesehene Ärzte hinter sich weiß, darf es bekanntlich sogar riskieren, Meineide zu schwören. Da soll doch mal jemand zu beweisen versuchen, daß es sich nicht um einen durch geistige Erschöpfung bedingten „Black-out“ handelte! Zumal wenn höchste Politiker und Beamte durch eine Krise über die Grenzen ihrer geistigen Kräfte hinaus gefordert werden, wenn sie obendrein selbst unzureichend und einseitig informiert wurden – wer wollte da von Lüge sprechen? Muß da nicht vielmehr, auch beim besten Willen, eine Informationslücke entstehen?
Der Volkszorn machte daraus eine Lüge. Das erste ungläubige Staunen über die amtliche Informationspolitik zu den Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wich rasch einem Gefühl, für dumm verkauft zu werden, und dann einer tiefen Erbitterung über „die da oben“. War denn so etwas möglich: Eine Gefahr, die nie bestanden haben sollte, und die dennoch von Tag zu Tag kleiner wurde? – Strahlungswerte, die immer weiter sanken, obwohl sie doch angeblich längst im Rahmen des normalen Pegels gelegen hatten? Die Versicherung, es gebe keine Risiken für die Gesundheit, bei gleichzeitiger Warnung vor solchen? – Das Leugnen jedes denkbaren Schadens bei gleichzeitiger Forderung nach Schadensersatz von der Sowjetunion? – Dies alles war selbst dem bravsten Bürger zu viel. Unruhe, ja Wut breitete sich aus.
Aber der Mensch vergißt so schnell! Wer hebt sich schon die Zeitung von vorgestern auf? Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht ...? Welch altväterliches Sprichwort! In der Politik hat das schon früher nicht gestimmt, denn der Mensch kann nicht lange leben, ohne etwas zu glauben. Wenn man Könige oder Tyrannen nicht loswerden konnte, so mußte man schließlich eben doch an sie glauben. Heute endlich, im Zeitalter zentral gesteuerter Medien und der sprichwörthchen Innovationsgeschwindigkeit, kommt es auf das „Geschwätz von gestern“ überhaupt nicht mehr an. Wer dauernd lügt, dem glaubt man immer wieder...
Warum dann dieses Buch? Die Lage ist eben doch noch nicht so hoffnungslos! Wir leben ja trotz allem in einer der freiesten Gesellschaften der Welt. Wir dürfen nicht nur Bücher schreiben, es gibt auch Verleger, die sie drucken und verkaufen – und Leute, die sie lesen wollen und lesen dürfen! Ja, können wir nicht endlich sogar unsere Könige oder Tyrannen – oder welche Mächte auch immer – loswerden?
Das wäre eine gewaltige Aufgabe! Der Bau einer Gesellschaft, in der die Macht der Lüge geringer wäre! Dazu können wir hier höchstens einen winzigen Baustein beitragen. Wer sind wir denn? Wir sind drei mehr oder weniger brave Bürger, die in München und Oberbayern leben (in jenem Teil der Bundesrepublik also, der am meisten „Fall-out“ von Tschernobyl abbekam und der auch im übrigen, nicht nur wegen der Fernsehzensur, gelegentlich an Rußland denken läßt), und wir wollen hier festhalten, wie wir es alles erlebten jeder auf seine Weise: Wie unvorbereitet uns das unsichtbare Gift traf, wie erst lange nach dem unheilschwangeren, prasselnden Regen allmählich die Informationen und Lügen auf uns herniedertröpfelten, und wie uns dies alles betroffen machte.
Vor diesen teilweise sehr persönlich gefärbten Berichten haben wir im ersten Teil des Buches einen Salat aus den uns zugänglichen Meldungen, Verlautbarungen und Kommentaren angerichtet. Aber nein, angerichtet haben wir den Salat nicht! Wir haben ihn wiederaufbereitet. Er ist also, mag er noch so lecker wirken, keineswegs zum Genuß bestimmt, vielmehr zur Endlagerung. Noch einmal dürfen wir uns so etwas nicht vorsetzen lassen! Darum will der Untertitel dieses Buches ernst genommen werden: eine Anleitung zum Volkszorn.
Die Autoren