Globale Beschleunigungskrise – so nannte der Astrophysiker Peter Kafka (1933-2000) die globale Krisensituation, die eintritt, wenn der Fortschritt der menschlichen Kultur das Stadium der globalen Vereinheitlichung erreicht und sich gleichzeitig immer weiter beschleunigt. Diese Krise ist schon im Schöpfungsprinzip der Evolution veranlagt, ist unvermeidlich und wird in unserer Zeit durch die geistigen Fähigkeiten des Menschen verwirklicht. Sie führt jedoch nicht zwangsläufig in den Untergang, sondern beschleunigt auch die notwendige Revision unserer Leitideen und die Einsicht in die Grundbedingungen einer „aufwärts“ führenden Evolution sowie die damit verbundenen Lernprozesse. Dadurch wird sie zum entscheidenden Wendepunkt für den weiteren Fortschritt.
Erklärt wird die Krise durch die systemtheoretische Betrachtung der Biosphäre und deren Evolution.
Schöpfungsprinzip
Die Wirklichkeit auf Erden, in der wir selbst Mitspieler sind, ist ein komplexes dynamisches System, ein System, das dauernd in Bewegung (dynamisch) ist, im Fluss, und sich immerzu weiter entwickelt, dessen inneres Wirkungsgefüge jedoch so vielfältig und verflochten (komplex) ist, dass niemand alle darin steckenden Möglichkeiten ermessen kann, auch nicht der allergrößte Computer. Niemand kann die Entwicklung eines solchen Systems vorausberechnen außer in Form von Wahrscheinlichkeiten für verhältnismäßig kurze Zeiträume – wie man es von der Wettervorhersage kennt.
Trotz seiner Ruhelosigkeit und Veränderlichkeit kann ein solches System sehr beständig sein und eine typische Gestalt annehmen. Das sieht man besonders deutlich an einem lebenden Organismus: Es herrscht ein „Fließgleichgewicht“ zwischen Aufbau und Abbau. Die Beständigkeit des Fließgleichgewichts, des Fortlebens und der Evolution als ganzer beruht darauf, dass fast alle Prozesse in Zyklen verlaufen. Die selben „eingespielten“ Prozesse werden immer wieder aufs Neue durchlaufen, auch wenn es dabei ständig zu kleinen Abweichungen kommt, zu Fehlern und Störungen. Wenn die Störungen nicht zu groß sind, pendelt sich das System als ganzes immer wieder in die bewährten Zyklen ein – darin besteht ja die Bewährung – und findet manchmal sogar zu einer Verbesserung, durch die es noch raffinierter mit Fehlern zurechtkommen kann. Ein System, das sich keine Fehler erlauben kann, ist nicht lebensfähig. Kann es sich aber Fehler erlauben, dann sind es genau diese ständigen Neuerungen, die Abweichungen und Störungen, die den Fortschritt zu einem immer komplexeren Zusammenspiel, einer zunehmenden Ordnung bewirken: Es geht „aufwärts“ – solange zwei Grundvoraussetzungen erhalten bleiben:
Vielfalt und Gemächlichkeit
Die Vielfalt ist Voraussetzung dafür, dass nicht jede kleine Störung das System zum Abstürzen bringt. Ist die Störung nämlich „eingebettet“ in eine Vielzahl bewährter Möglichkeiten, die dem System als Alternativen zur Verfügung stehen, kann sie neutralisiert oder, wenn sie „gut“ oder sogar „noch besser“ passen sollte, in das Ganze „eingeordnet“ werden. Gut ist eine Neuerung dann, wenn sie sich über längere Zeit bewährt. Ein anderes Kriterium gibt es nicht.
Gemächlichkeit bedeutet: Zeit, um sich bewähren zu können. Ein System, das darauf angewiesen ist, sich selbst zu regenerieren, braucht dazu genügend Zeit. Anders ausgedrückt: Es gibt eine kritische Obergrenze für die Geschwindigkeit, mit der ein (weitgehend) in sich geschlossenes System wie die Biosphäre sich verändern kann, ohne in eine Instabilität zu geraten. Noch anders ausgedrückt: Wenn sich ein solches System so schnell verändert, dass eine Neuerung durch die nächste ersetzt wird bevor sie sich genügend bewähren konnte, dann erhöht sich die Fehlerquote mit jeder Neuerung exponenziell, und die Wahrscheinlichkeit, dass das System mit den zunehmenden Problemen fertig wird und nicht abstürzt, geht sehr schnell gegen Null.
Die Krise
So gesehen ergeben globale Vereinheitlichung und schnellere Innovation, diese in Wirtschaftskreisen so dringend angemahnten „Notwendigkeiten“, eine gefährliche Kombination – bestens geeignet, die Stabilitätsgrundlagen unserer Weltwirtschaft und menschenfreundlichen Biosphäre zu beseitigen. Globalisierung ist für sich nichts schlechtes; viele Lebensprinzipien, z.B. das DNS-Prinzip des genetischen Codes, haben sich allmählich erfolgreich über den ganzen Globus ausgebreitet. Auch hektische Innovationen mit anschließenden Bruchlandungen bedeuten keine Gefahr für das Ganze, solange die Abstürze lokale Ereignisse bleiben. Kritisch wird es, wenn der Strukturwandel gleichzeitig schnell und global erfolgt.
In der Konkurrenz um Lebensgrundlagen boten Schnelligkeit und räumliche Ausbreitung in der Regel einen selektiven Vorteil. Wir, die „Anführer“ der Evolution, sind – paradoxerweise, wie es scheint – von „Mutter Natur“ zu den Erfindern und Unternehmern herangezogen worden, als die wir uns heute daran machen, den ganzen Globus möglichst schnell und möglichst einheitlich zu kolonisieren und rundum zu „erneuern“. Die Krise ist also in der Evolution veranlagt und unvermeidbar. Sie bedeutet aber nicht notwendigerweise den Untergang der menschlichen Zivilisation. Die „Anführer“ der irdischen Evolution – die Menschen – sind, wenn sie imstande waren, die Krise herbeizuführen, wahrscheinlich auch imstande, schnell genug zu lernen, wie sie zu überwinden ist. – Peter Kafka:
»Im Höhepunkt der globalen Beschleunigungskrise wird klar, daß die organisatorische Überwindung der Konkurrenz um Lebensgrundlagen auch im gewohnten Sinn rationeller wäre. Sie ist nicht mehr Traum oder religiöse Utopie. Fast alle, sogar die heutigen Repräsentanten der Macht, hätten mehr Vorteile als Nachteile davon. Es wären nicht etwa gewaltige Umstürze erforderlich. Relativ kleine regulierende Eingriffe an einigen Hebelpunkten, vor allem im Geld-, Eigentums- und Steuerrecht würden genügen, um die ganze Menschheit „fast von allein“ in einen menschenwürdigeren Zustand kippen zu lassen. Es muß nur zunächst die Zwangsvorstellung aus den Köpfen vertrieben werden, daß Machtkonkurrenz zwischen Menschen gewissermaßen naturgesetzlich unvermeidbar sei und sich daher auch nicht durch Zusammenarbeit behindern lasse. (...) Die Wirklichkeit, um die es nun geht – das Geschehen in 6 Milliarden Menschenhirnen – ist unvorstellbar komplex, und so können wir nicht ahnen, wo und wann der Selbstorganisationsprozeß einsetzt, der durch die globale Beschleunigungskrise hindurchführt. Die Keimzelle wird sicherlich nicht in den weltweiten Verhandlungen zwischen Regierungsbeamten und „global players“ entstehen, denn dort klammert man sich weiter an die zusammenbrechenden Ideen.«