Krise heißt Entscheidung
Aus: Zukunftsfähige Wirtschaft. Beiträge zur 4. Internationalen Tagung der Internationalen Vereinigung für Natürliche Wirtschaftsordnung (INWO) in Bern 1995
Zum Ausdrucken: PDF

Wir haben die Biosphäre, Wurzel auch aller «höheren» menschlichen Fähigkeiten, an den Rand des Untergangs gebracht. Sogar der Strahlungshaushalt der Erde, der vom Lebendigen über lange Zeiträume langsam geregelt wurde, ändert sich nun innerhalb eines Menschenalters. Der Schöpfungsprozess ist in eine globale Beschleunigungskrise geraten. Im Prinzip evolutionärer Selbstorganisation ist logisch begründet: Organisation im Großen und höhere Innovationsgeschwindigkeit haben so lange einen Selektionsvorteil, bis praktisch alle Versuche sich als Irrtümer erweisen. Zwar wenden sich immer mehr Intelligenz und Kreativität dem Erkennen und der Reparatur von Fehlern zu, doch muss schliesslich fast jede Problemlösung mehrere neue Probleme schaffen, die noch weiter ausgreifen und noch drängender sind, also noch eiligerer Lösung bedürfen. So läuft die Problemerzeugung der -lösung davon, bis räumlich und zeitlich kritische Skalen erreicht sind: Es kommt zur Globalisierung von Leitideen und Ordnungsstrukturen – zu drastischer Weltverbesserung, bevor auch nur eine Menschengeneration beim Heranwachsen die Lebensfähigkeit neuer Ideen hat testen können, ganz zu schweigen von der evolutionären Anpassung der Biosphäre und des Klimas. Dass wir nicht rasch genug über die Erde hinauswachsen können, um unsere Probleme zu lösen, ist offensichtlich; dass unsere Generationsdauer eine kritische Schranke für die Geschwindigkeit der Wertschöpfung liefert, ahnt zwar, wer schon am Ende der Jugend die Welt der Kindheit nicht mehr wiederfindet, doch rational verstehen lässt sich dies erst im Rahmen einer Systemtheorie von Gott und Teufel.

Was ist denn der Lauf der Welt? Die raumzeitliche materielle Wirklichkeit, zu der auch unsere Hirnaktivität gehört, zappelt durch zufällige Schwankungen im
Raum der Möglichkeiten. Dieses Reich der Ideen, das auch geistige Welt, Himmel, Jenseits oder Ewigkeit genannt wird, enthält unendlich viele Gestalten, unter denen der Schöpfungsprozess immer attraktivere ertasten muss. Attraktoren machen es der Wirklichkeit schwer, ihren Einzugsbereich zu verlassen, wenn diese durch ihr Zappeln einmal hineingeraten ist. Und dennoch führt gerade dieses Prinzip «aufwärts» zu immer höherer Komplexität, weil (letztlich dank dem unwahrscheinlich geordneten Ursprung unseres Universums) die Wirklichkeit beim Weitertasten stets Chancen hat, zyklische Gestalten zu finden, in denen alles besser, noch überlebensfähiger zusammenpasst als vorher, und die genügend Zeit für ein Weitertasten bieten, bei dem Irrtümer nicht Absturz bedeuten. Deshalb bedeutet evolutionärer Fortschritt nicht das Verlassen der über lange Zeiträume auf tiefem Niveau verwirklichten bewährten Gestalten, sondern vielmehr die noch bessere Organisation kooperativer Sicherung gegen zerstörerische innere und äußere Schwankungen. Neue, «höhere» Gestalten benutzen daher immer schwächere Wechselwirkungen zwischen «niedrigen» – so viel schwächer als jene in deren innerer Organisation –, dass das Innenleben der kooperierenden Partner nicht wesentlich gestört wird. Atome bestehen aus Elementarteilchen, Moleküle aus Atomen, Zellen aus Molekülen, Organismen aus Zellen, Arten und Gesellschaften aus Individuen: Komplexität bedeutet ein raffiniertes Gleichgewicht zwischen Versklavung und Befreiung.

Das höchste erreichte Komplexitätsniveau liegt in der als Seele und Geist erfahrenen Hirnaktivität von Einzelmenschen im Rahmen einer Kultur. An dieser Front der Evolution sind unvorstellbare weitere Fortschritte möglich, doch nur, wenn nicht übergeordnete und untergeordnete Strukturprinzipien verlassen werden, bevor ein Mensch herangereift ist. Auch an der Front muss Zeit für Bewährung sein; und Bewährung bedeutet nun einmal nichts anderes als wiederholtes Durchlaufen von Zyklen. (Kein Wunder, dass die Wurzel des Wortes Ethik Gewohnheit bedeutet.) Zu schnelles Voranstürmen im Raum der Möglichkeiten, gar wesentliche globale Innovation innerhalb der Generationszeit der Anführer kann nicht «aufwärts» führen. Erst mit dem Menschen wurden solche Entwicklungen überhaupt möglich, und nicht ohne Grund lässt der Schöpfungsmythos unserer Ahnen Lucifer, den Lichtbringer, am sechsten Tag als Diabolos, als Durcheinanderwerfer, erscheinen. Der Schöpfungsprozess ist nicht zu Ende, doch setzte er sich nun vor allem im Zappeln des Menschen fort, das schliesslich zum Ringen um die Entscheidung zwischen Aufstieg und Absturz wurde. Nun, im Höhepunkt der globalen Beschleunigungskrise, wird diese Entscheidung in unserem und unserer Kinder Bewusstsein fallen und innerhalb eines Menschenalters global organisiert werden: Krisis heißt Entscheidung.

Den notwendigen Organisationsprinzipien ist das Denken Einzelner und kleiner Gruppen seit Jahrtausenden nahe gekommen, doch erst im Höhepunkt der Krise können sie global erreicht und verfassungsmäßig gesichert werden. Die rettende Einsicht ins Wesen des Schöpfungsprozesses ist so einfacher Natur, dass angesichts der Untergangssymptome die Aufklärung der Mehrheit durch geistige Bemühung einer Minderheit wahrscheinlich wird. Die scheinbar unwiderstehliche Macht heute herrschender Ideen bricht dann zusammen. Der naheliegende Einwand, dass Propheten fast immer erfolglos predigten, trifft hier nicht zu. Bevor weltweit die kritische Innovationsgeschwindigkeit überschritten wurde, mussten zwar lebensfähigere Ideen in Konkurrenz mit den fortschrittlicheren verdrängt werden. Wenn aber das Große und Schnelle durch weiteres Verfolgen seiner mächtigsten Leitideen – also durch Vernichtung, Verdrängung oder Ausbeutung von Menschen und Biosphäre – den Untergangssymptomen nicht mehr entfliehen kann, dann wird eine vernünftigere Selbstorganisation der menschlichen Freiheit wahrscheinlich. So werden die nächsten zwei Generationen auf demokratischem Wege die logischen Voraussetzungen wirklicher Wertschöpfung herstellen und verfassungsmäßig sichern können.

Dass wir nun politisch, wirtschaftlich und technisch global die Vielfalt organisieren und in Eile zur Gemächlichkeit finden müssen, bedeutet nicht etwa einen inneren Widerspruch. Die Instabilität definiert selbst ihren kritischen Zeitrahmen. Nur vor dem Aufprall kann die Umlenkung des globalen Schwunges in vielfältige lebensfähige Strukturen gelingen – mittels Kräften, die durch den Fortschritt der Instabilität verstärkt wurden, bis sie die alten Antriebskräfte überwinden: die Macht der Waffen und des Kapitals – und die Macht des Aberglaubens, dass Neues wahrscheinlich gut sei, wenn es nur gutem Willen entspringt. Ein Umkippen im Bewusstsein einer ganzen Generation steht bevor. An der neuen Front evolutionärer Selbstorganisation werden andere Strukturprinzipien die Vorteile des Grossen und Schnellen erlangen. Immer stärkeres Leiden an den Widersprüchen, heftigeres Zappeln an immer heisser werdenden Reibungsstellen der Gesellschaft wird die Mehrheit in den Einzugsbereich lebensfähigerer Ideen im Raum der Möglichkeiten bringen.

Es gibt nicht eine natürliche Wirtschaftsordnung. Alles Wirkliche, ja alles Mögliche ist natürlich – auch der Untergang wäre es, wenn es denn nicht anders ginge. Aber natürlich geht es anders! Bald wissen es alle: Wenn «Fortschritt» und «Wachstum» immer mehr Menschen davon abhängig machen, dass mit immer mehr Materie und Energie Schund produziert, der rasch als Schund erkannt, weggeworfen und ständig rascher durch neuen Schund ersetzt wird, dann ist dies der Fortschritt einer Krankheit! Sie ist aber nicht auf dem «altmodischen» biologischen Niveau organisiert, sondern im Bewusstsein. Nichts spricht dafür, dass sie hier nicht auch heilbar wäre.

Einsicht in das Wesen der Krise wird uns eine lebensfähigere politisch-wirtschaftliche Ordnung finden lassen als die bisherige, welche die Menschen dazu befreit und dazu zwingt, so zu leben, dass nicht andere darunter leiden. Die Abschaffung der Sklaverei ist erst dann gelungen, wenn es unmöglich ist oder sich nicht lohnt, Eigentum an wesentlichen Lebensgrundlagen anderer zu erwerben. Statt von Chancengleichheit zu faseln, müssen wir dafür sorgen, dass niemand die Chance hat, anderen ihre Chancen wegzunehmen. Was lange als Utopie erscheinen musste, wird im Höhepunkt der Krise als selbstverständliche Strategie zu deren Überwindung einleuchten: Aufgabe der Menschen und der Völker ist die gemeinsame verfassungsmässige Sicherung gegen imperialistische und egoistische Machtansprüche, also die Organisation des Friedens und die Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapitalismus. Diese Arbeit beginnt beim Geld- und Bodenrecht. Letztlich geht es um die Beschränkung fast alles Grossen und Schnellen, also darum, Voraussetzungen wirklicher Wertschöpfung gesellschaftlich zu organisieren, die nach evolutionärer Logik, «ganz natürlich», auf dem Weg in die Krise verloren gehen mussten, und die nun dennoch an der geschichtlich neuen Front des Bewusstseins wieder erreichbar werden. Die Mehrheit wird sich dieser Aufgabe erst zuwenden, wenn klarer wird, dass dabei fast alle gewinnen. In der «neuen Weltordnung» werden der Einzelne und die Völker nicht mehr mit dem Kampf ums biologische, seelische oder kulturelle Überleben beschäftigt sein, weil vielfältige Freiräume für «höhere» evolutionäre Konkurrenz entstehen, in der weder Menschen noch die Biosphäre ausgebeutet werden.