Kontroverse um ein Denkmal
Das sogenannte Böse in Konrad Lorenz

Zur Diskussion in der Zeitschrift natur über das Interview mit Konrad Lorenz zu dessen 85. Geburtstag (in den Heften 11, 12/88 und 1, 2/89). Der Beitrag erschien im Heft 3/89, wenige Tage vor Lorenz‘ Tod am 27. 2. 1989.
Siehe auch:
Konrad Lorenz: Der Abbau des Menschlichen
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„Wann distanziert sich die Umweltbewegung glaubhaft von diesem Mann und seinen Ideen?“, fragte Sabine Rosenbladt. Ein „furchtbarer Biologe“ sei er – vergleichbar dem „furchtbaren Juristen“ Filbinger und dem „furchtbaren Journalisten“ Werner Höfer.

Vielen furchtbaren Menschen wurden Denkmäler errichtet. Sie laden zum Denken ein – nicht zum Abreißen. Sicher muß man sich in einige Distanz begeben, um sie recht wahrzunehmen, doch allzu eifriges Sich-Distanzieren führt oft zur Verdrängung wichtiger Fragen. Wir sollten vielleicht lieber versuchen, uns einzufühlen in die furchtbaren Menschen; versuchen, ihrem entwicklungsgeschichtlichen Hintergrund nachzuspüren – in der Geistesgeschichte wie auch in der individuellen Lebensgeschichte. Wenn wir die falschen, bösen Gedanken allein lassen, wuchern sie womöglich weiter. Gehen wir ihnen nach, sind sie hoffentlich zu überholen.

Konrad Lorenz hat sich nicht selbst auf einen Sockel gestellt. Seine Eitelkeit entspricht nur etwa dem männlichen Durchschnitt. Er nimmt auch seine Schwächen wahr, und seine „Scheißberühmtheit“ war ihm zuweilen eher peinlich. Er empfindet sich selbst nicht als übergroßen Wissenschaftler, und erst recht nicht als „großen Philosophen“. Dazu möchten ihn nur jene stilisieren, die auf ein paar fest eingerammten Stützen ein unumstößliches Weltbild montieren wollen, um den Weitersuchenden den offenen Blick zu verstellen.

Er selbst hat bei aller Sturheit stets auch Offenheit besessen. Die frühe Fixerung auf eine „biologistische“ Betrachtungsweise führte ihn nicht in totale wissenschaftliche Verengung. Viele der heute führenden Biologen werfen ihm deshalb vor, er habe sich zu sehr auf seine ganz private Intuition gestützt und damit die Wissenschaft verlassen. In der Tat ist sehr vieles, was er in der Wissenschaft gefunden zu haben glaubt und wiederzugeben versucht hat, wissenschaftlich angreifbar, oder jedenfalls ergänzungsbedürftig, manches auch leicht widerlegbar. Wer nur die einfürallemal gesicherten, möglichst auch noch mathematisierten Formulierungen zur Wissenschaft zählen will, der möge also Konrad Lorenz ruhig aus deren Reich ausschließen. Das bedeutet keine Erniedrigung. Es liegt nur daran, daß fast alles wesentliche am höheren Leben, eben seine hohe Komplexität, der Wissenschaft kaum zugänglich ist. Jene Fragen, die einfach genug sind, um einfache reproduzierbare Antworten zu erlauben, also die „wahren wissenschaftlichen Fragestellungen“ sind definitionsgemäß relativ simpel.

Damit soll nicht gesagt sein, daß nicht auch beim Versuch, die Intuition, also die eigene seelische Komplexität, zu tieferem Eindringen ins Wesen des Lebendigen einzusetzen, simpler Unfug herauskommen könnte – sogar mit katastrophalen Folgen. Eben dies wird ja Konrad Lorenz ebenfalls zurecht vorgeworfen. Wo man die eigene Phantasie einbringt, ergeben sich unumgänglich gelegentlich Analogieschlüsse und Vergleiche, die anderen allzu subjektiv gefärbt oder gar an den Haaren herbeigezogen erscheinen. Da aber der Leser sogleich merkt, daß es sich dann nicht um „exakte Wissenschaft“ handelt, wird nicht mehr Schaden angerichtet, als durch ein schiefes Bild in einem Gedicht.

Unerträglich wird es erst, wo völlig unreflektiert die perversesten politischen und sozialen Vorurteile seiner Zeit mit angeblich wissenschaftlichen Einsichten zu einem widerlichen Brei vermengt werden. Gert Heidenreich hätte das „mir wird schlecht“ auch noch deutlicher aussprechen dürfen: Zum Kotzen. Die vielen furchtbaren Zitate, die geradewegs aus dem nationalsozialistischen Amt für Rasseforschung stammen könnten, brachten auch mich einmal in die Versuchung, das Kapitel Lorenz einfach zuzuklappen und unter dem sogenannten Bösen abzulegen, das für mich allerdings viele Berührungspunkte mit dem sogenannten Dummen hat.

Ja, Auschwitz hat er nicht gewollt, als er den „rassischen Gedanken als Grundlage unserer Staatsform“ pries – das wird ihm jeder glauben. Aber was hat er gewollt, als er solche Sätze schrieb? Rechtfertigen sie nicht das deutsche „Euthanasieprogramm“ für das „lebenswerte Leben“ und die Ausrottung aller vom „gesunden Volksempfinden“ erkannten „Schädlinge“?

Kann man als Entschuldigung akzeptieren, daß damals nicht, wie heute, die Menschenrechte in Mode waren, sondern die „höheren“ Ideen von Volk und Rasse? Ja, ja, die Zeitbedingtheit. Hat nicht Plato in seiner Politeia die kambodschanischen Greuel des Pol Pot vorbereiten helfen – und gilt er nicht dennoch als großer Denker? Und verachten wir etwa Sokrates, weil er nicht versuchte, einen Sklavenaufstand zu organisieren? Wir dürfen es uns nicht zu leicht machen: Was jemandem die höchsten Werte sind, hängt selbstverständlich von der Erziehung und Umwelt ab. Mancher, der sich hierzulande vor 50 Jahren für einen „ethischen Menschen“ hielt, konnte offenbar der Vertilgung von „Minderwertigen“ recht gefühllos zusehen oder beide Augen zudrücken; und das verbrecherische an solcher „Schädlingsbekämpfung“ mag ihm erst in den Sinn gekommen sein, als auch die Nützlinge und die ganze Natur unter ihr zu leiden begannen. Sollen wir‘s also alles der frühen Prägung der „Braungans“ zuschreiben? (So nannte ihn die böse Jutta – schließlich wuchs er ja am Rande des gleichen Sumpfes auf, dem auch Hitler entstammte.)

Sicherlich – die meisten, die in der vorliegenden Diskussion ihren berechtigten Abscheu über die angepaßten Schreibereien des Konrad Lorenz äußerten – und die ja fast alle so recht haben! – gehören zu einer Art moralischer Elite: Sie stehen heute im Widerstand gegen die aktuelleren Beiträge zur Umweltzerstörung. Sie mögen also subjektiv recht haben, wenn sie sich selbst für „ethischer“ halten als den jungen Doktor Lorenz. Für eine ethische Bewertung unter Einschluß psychologischer Gesichtspunkte müßte man allerdings bedenken, daß der Anpassungsdruck damals noch stärker war als heute, und daß einem auch mehr als eine Professur entgehen konnte, wenn man aus dem Gleichschritt ausscherte. Der Drang, zur gesellschaftlichen Diskussion etwas anderes beizutragen als Schweigen oder den eigenen Märtyrertod, verführte ja fast alle Ehrgeizigen zu den schrecklichsten Verrenkungen des eigenen Denkens und Gewissens.

Der Selbstbetrug beginnt meist nicht mit krassen Lügen, sondern mit Gewichtsverschiebungen zwischen den vielen verschiedenen Wahrheiten. Das ist es ja eben: Selbst an dem bösartigen Geschwätz der „Rassenhygieniker“ und Pfleger der „Volksgesundheit“ war natürlich etwas Wahres dran – wie ja z.B. auch heute an den Verlautbarungen der Wirtschafts- und Energiepolitiker oder an den Schilderungen und guten Absichten größenwahnsinniger Gentechniker und anderer Weltverbesserer etwas Wahres dran ist. Die Lüge entsteht erst dadurch, daß man wesentlichere andere Teilwahrheiten wegläßt und auf die Verfolgung der vielen komplexen Zusammenhänge bei der Einbettung ins Ganze verzichtet.

Welche Teilwahrheiten beherrschten wohl damals den Verhaltensforscher Konrad Lorenz? Die Konzentration auf sein Spezialgebiet hatte ihn in eine Falle geführt, in die auch heute wieder viele zu tappen beginnen (was in der Diskussion über die Gentechnik zunehmend eine Rolle spielen wird): Es gibt ja so offensichtlich bessere und schlechtere Individuen. An jedem Stammtisch weiß man das – am rechten und am linken. Der evolutionäre Fortschritt beruhte stets darauf, daß die Vermehrung der „Schlechteren“ gegenüber der der „Besseren“ irgendwie erschwert war. Dazu trugen auch „innerartliche“ Selektionskriterien bei, also durch biologische Evolution entwickelte, genetisch fixierte Verhaltensweisen, die der „Ausmerzung von Schwächlingen und Schädlingen“ dienten. Das ist natürlich unbestreitbar, wenn auch unklar bleibt, welches Gewicht demgegenüber beim Menschen die „traditionellen“ Verhaltensweisen hatten, die nicht genetisch, sondern durch Lernen fixiert wurden, die aber teilweise sogar noch grausamer waren und sind.

Solche Verhaltensmechanismen erschienen Lorenz als so komplex, daß er meinte, sie seien angesichts unseres „niedrigen Kenntnisstandes“ jedenfalls „nicht durch Verstandesleistungen zu ersetzen, geschweige denn zu übertreffen“ (vgl. die Zitate bei Jost Herbig). War das nicht lobenswerte Bescheidenheit? Führt solches Denken nicht direkt zur Ehrfurcht gegenüber allem allmählich Entwickelten, das wir nicht durch eilige „Verstandesleistungen“ zerstören dürfen? Ist es nicht dieselbe Einsicht, die ihn einige Jahrzehnte später gegen den rasenden technischen Umbau der Welt aufstehen und zu einem der ersten Wortführer des Naturschutzes werden läßt? Und ist nicht genau dies für viele von uns das wesentliche Argument gegen die nun über uns hereinbrechenden Weltverbesserungsversuche der Gentechniker?

1940 aber folgte daraus für Lorenz das Vertrauen, daß „ein guter Mensch in seinem dunklen Drange sehr wohl merkt, ob ein anderer ein Schuft ist oder nicht“. So etwas damals zu schreiben, ohne sich und dem Leser klar zu machen, daß offenbar fast der ganze „gesunde Volkskörper“ aus Schuften bestehen kann, die sich einen der schlimmsten Schufte zum Führer wählen – ist das nicht gar zu wenig an Verstandesleistung – zumal für einen Verhaltensforscher? Konrad Lorenz definiert die Dummheit als „Überschätzung der eigenen Urteilsfähigkeit“. Wieder diese sympathische Bescheidenheit? Aber auch die Unter-schätzung der eigenen Urteilsfähigkeit gegenüber dem dunklen Drange einer Mehrheit kann offenbar dumm sein. Bescheidenheit kann in Resignation, ja in Feigheit ausarten, bis man dem Stammtischgeschwätz mehr glaubt als dem eigenen Gewissen – weil die Stammtischbrüder doch so gesund sind – und so viele – und alle durch ganz natürliche Evolutionsprozesse entstanden.

Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen Feigheit und Anmaßung? Es lohnt sich, der Frage nachzugehen, denn diese als wissenschaftliche Bescheidenheit getarnte Feigheit stellt auch heute die größte Gefahr für Mensch und Natur dar. Die „Wertfreiheit“ des Wissenschaftlers überläßt die Werturteile den „Mehrheitsverhältnissen“. Irgendwie steht die als Darwinismus deklarierte Idee dahinter, was dabei herauskomme, sei eben das Bessere gewesen – wenn es auch wiederum von noch Besserem verdrängt werden wird. Die Verstandesleistungen des Wissenschaftlers sollen zwar der Befriedigung der Bedürfnisse dienen, keinesfalls aber deren Bewertung. (So wagen es z.B. Ökonomieprofessoren noch immer, sämtliche Wirtschaftsleistungen ihrem Geldwert nach zum Bruttosozielprodukt aufzuaddieren und die Summe als Maß für die „Wertschöpfung“ anzubieten – so daß auch noch die zerstörerischste Aktivität „Wachstum“ produzieren kann.)

Diesem schwachsinnigen Verhalten auch der Wissenschaftler kann man aber nicht mehr beikommen, indem man ihren „Neodarwinismus“ oder „Biologismus“ abweist und (wie Freimut Duve) betont, daß der Mensch ja schließlich denken könne – im Gegensatz zu den Graugänsen und Feldmäusen. Erschwert nicht das Denken alles noch mehr? Zeigt es uns nicht, daß der Darwinismus nun alle Wissenschaften durchdringt – und obendrein zu Recht? Kaum jemand zweifelt doch hier noch, daß sein Prinzip die Entstehung des Systems alles Lebendigen, auch über die biologischen Prozesse hinaus, richtig beschreibt – bis hin zur Entwicklung menschlicher Gedenken und Kulturen. Auch hier sind vorübergebende Fehlentwicklungen unvermeidbar. Machen wir doch nicht so viel Aufhebens davon. Distanzieren wir uns von den Irrtümern, und weiter geht‘s .... voran! Sehen wir denn nicht immer deutlicher, daß auch die seelisch-geistigen Vorgänge einem verallgemeinerten Darwinschen Prinzip unterliegen? Alle Wertschöpfung in der Welt, von der einen einfachsten Gestalt des Urknalls bis zur Vielfalt in uns selbst und um uns herum geschieht doch offenbar durch Selbstorganisation nach diesem Prinzip. Auch auf dem freien Markt der Gedanken setzt sich eben das durch, was wir deshalb nachher das Bessere nennen dürfen. Wo soll der Wissenschaftler da die Ethik einführen?

Auch das Denken und Empfinden des einzelnen ist ein solcher Evolutionsprozeß. Irrtum ist notwendig. Nur durch Versuch und Irrtum wird Besseres gefunden. All das, was einer auf seinem Lebensweg bewußt und unbewußt erfährt, wird in unendlichen Versuchen, mit kleinen punktuellen Mutationen, Reproduktionsfehlern, und in immer neuen Kombinationen hin- und herbewegt, bis plötzlich eine Gestalt sich abzeichnet, eine Idee wahrgenommen wird, die in diesem Augenblick ein bißchen erfolgreicher erscheint als ihre Konkurrenten im Pool aller Denk- und Fühlgestalten, aus dem sie hervorging. Welcher Selektionsmechanismus entscheidet darüber, ob sie ins Bewußtsein gelangt, sich in Worten ausdrücken darf, in den gemeinsamen Pool alles Gedachten Eingang finden kann, kulturelle Wirkung oder gar langdauernden Bestand haben wird? Oder ob sie schnell ausgemerzt wird und Besserem Platz macht – schon im eigenen Weiterdenken, oder erst in der Wechselwirkung mit dem Denken anderer, im noch umfassenderen gesellschaftlichen Evolutionsprozeß?

Einen der hier stattfindenden Selektionsprozesse nennen wir „das Wollen“. Die indoeuropäischen Sprachwurzeln „Wollen“ und „Wählen“ stimmen überein. Und steckt nicht hinter beidem das Bild des Hin- und Herdrehens, Hin- und Herwälzens, das auch in der Welle und im lateinischen voluere steckt, von dem sich der Begriff „Evolution“ ableitet?

Wenn man weit genug zu den Wurzeln hinuntersteigt, stößt man stets auf Tautologien. Man mag es drehen und wälzen wie man will: Alles kommt aus dem Wählerwillen. Es ist kein übergeordneter Wille da, der nach eigenen Züchtervorstellungen die Entwicklung der Ideengestalten steuern würde. Das spielerische Erproben von Chancen und Risiken, das Abtasten der jeweiligen Nachbarschaft im Raum der Möglichkeiten, geschieht ja im wesentlichen nicht mehr in der Sprache des genetischen Codes, also durch zufällige Mutation, Neukombination von Nukleinsäuremolekülen und generationenlanges Erproben der zugehörigen lebendigen Erscheinungen in ihrer Wechselwirkung mit allen anderen. Nein, jetzt wird der Fortschritt viel schneller in einer noch höheren Sprache gesucht: In der des Menschen – neuerdings aber vor allem in der Sprache der Wissenschaft. Die Erprobung geschieht durch Verwirklichung konkurrierender technischer, wirtschaftlicher, und gesellschaftlicher Strukturen. Die neue Sprache und die zugehörige neue Front im Raum der Möglichkeiten sind selbst zunächst durch die gemächliche biologische Evolution, dann durch die schon viel schnellere kulturelle, und schließlich durch die sich überschlagende technisch-wirtschaftliche Entwicklung entstanden. Wo sollte da Raum sein für Freiheit und Verantwortung? Woran sollte da ein armer skeptischer Wissenschaftler erkennen, was er wählen soll, wollen soll? Und gar, wenn fast alle ringsum ein und dasselbe wählen – etwa den Führer, oder den rasenden Fortschritt?

Sollen wir ihn verurteilen? Oder können wir auf Lernfähigkeit und Resozialisierung setzen? Nur: Woher nehmen eigentlich wir Richter unsere Maßstäbe?

Immerhin, Konrad Lorenz hat doch eine eindrucksvolle Entwicklung erkennen lassen! Warum war er auf einmal nicht mehr Mitläufer, sondern gesellte sich zu den wenigen, die früh erkannten, daß der Fortschritt heute bergab führt? Er erfaßte dank seiner Beobachtung des Lebendigen intuitiv wesentliche Ursachen dieses Niedergangs, der nun in weltweite ökologische Katastrophen zu münden droht. Und Quelle der Einsicht war im Grunde die alte Bescheidenheit, die sich uns zuvor als Feigheit zu manifestieren schien. Auch begabte Menschen haben nicht viel mehr als einen wichtigen Gedenken im Leben, und die Wichtigkeit zeigt sich darin, daß er ein Leben lang immer wieder in anderen Zusammenhängen auftaucht und Folgen hat. In der zweiten Lebenshälfte führte die Bescheidenheit zur Wut über die Unbescheidenen, die daran arbeiten, die Voraussetzungen jeder weiteren Evolution zu zerstören. Die Trauer über das nun schon stündliche Aussterben so vieler wundervoller Arten, die für ihr Entstehen Jahrmillionen brauchten, – die immer raschere Vermarktung und Verwüstung der Kulturlandschaft, die er als Jüngling lieben gelernt hatte, – und wohl auch die Einsicht in die Katastrophe der eigenen Anpassung an die schrecklichsten Verwüster unserer Geschichte, – all das ließ ihn ahnen: Vorbedingung jeder weiteren Wertschöpfung ist die Wahrung der biologischen und kulturellen Vielfalt und die Einhaltung eines Zeitmaßes, das es erlaubt, zwischen dem Besseren und dem Schlechteren zu unterscheiden – also erst dann zu wählen, zu wollen, wenn klar ist, daß sehr wahrscheinlich das Bessere gewählt wird. Die noch immer von den Anführern propagierten Kennzeichen angeblichen Fortschritts – Vereinheitlichung und immer raschere Innovation – sind in Wahrheit Anzeichen der Zerstörung der Vorbedingungen alles weiteren Fortschritts. Konrad Lorenz war und ist daran beteiligt, solche Einsichten in das Wesen dieser Krise der Evolution zu verbreiten, und dafür dürfen wir ihm dankbar sein.

Seine Wirkung, selbst wenn sie teilweise dem „Altersprachtkleid des Pavian-Patriarchen“ zuzuschreiben wäre, hat mitgeholfen, den Gedanken an Verantwortung zu wecken: Wir müssen offenbar unsere durch Evolution hervorgebrachte Freiheit nutzen, um die Voraussetzungen weiterer Evolution wiederherzustellen und dauerhaft, sozusagen verfassungmäßig, zu sichern. Wir müssen von dem Irrtum Abschied nehmen, die Werte der Welt hingen an ihren Grundgesetzen, und da wir diese nun kennten, könnten wir gleich alles noch besser machen. Das Anschauen des Lebendigen hat auch den Naturwissenschaftlern wieder gezeigt, daß die Werte nicht in den simplen Grundgesetzen liegen, sondern in der fast unendlichen Komplexität, die sich nach den ebenfalls simplen Regeln der Evolution darauf entwickeln konnten. Daraus folgt die Bescheidenheit – und damit verliert die für viele so drängende Frage, ob es uns irgendwie gelingen könnte, „Ethik“ ins wissenschaftliche Weltbild hineinzubringen, schon viel von ihrer Dringlichkeit.

In einer komplexen Persönlichkeit sind auch das sogenannte Gute und das sogenannte Böse engstens miteinander verflochten. Sollen wir uns überhaupt bemühen, sie zu trennen? Die atemberaubenden Rückfälle, die Konrad Lorenz in seinem natur-Interview erlitt, sind peinlich, ja teilweise erschütternd, und dürfen deshalb nicht verschwiegen werden. Aber ein Grund für Haßgefühle sollte das nicht sein. Wer hat sich nicht schon einmal über den eigenen Vater oder Großvater geärgert, oder sich sogar seiner geschämt, wenn dieser mit zunehmendem Alter immer mehr in Denkweisen und Redensarten seiner Kindheit und Jugend zurückfiel, die eigentlich schon überwunden waren?

Daß Lorenz dem jungen Mann als Mittel gegen die Hoffnungslosigkeit empfiehlt, mit einem schönen Mädchen auf eine Bergtour zu gehen, müssen wir ihm nicht übel nehmen, liebe Freda! Das hat nichts mit Frauenverachtung zu tun. So hat er selbst Schönheit und Hoffnung erlebt. Ich auch! Und ich glaube, selbst die Graugänse waren ihm nicht nur „Stimulans“, sondern er hat sie geliebt.

Auch daß er fürchtet, erst große Katastrophen könnten die notwendigen Einsichten genügend weit verbreiten, möchte ich ihm nicht vorwerfen. Das ist leider nicht so unrealistisch, und die böse Erwartung bedeutet ja nicht böse Hoffnung – selbst wenn sich das zynische Wort von der „Sympathie für AIDS“ einschleicht.

Erschütternd aber ist, daß ihm der Unterschied zwischen den „ethischen Menschen“ und den „Gangstern“ wieder vorwiegend biologisch fundiert erscheint und ihm womöglich noch immer den Gedanken an „eugenische Maßnahmen“ nahelegt. Natürlich wird, wenn es überhaupt noch gelingt, zu den Bedingungen des Fortschritts zurückzufinden, langfristig auch über die biologische Zukunft der menschlichen Art nachzudenken sein. Aber wer dem schon heute Priorität einräumt, der wird das eilige Herumpfuschen an den Wurzeln des Lebens beschleunigen und eben dadurch zur Abschaffung der Zukunft beitragen.

Also, distanzieren wir uns! Dann mildert sich die Schärfe dieser dummen, bösen Details an Deinem Denkmal, Bruder Konrad, und das Ganze verschwimmt zu mehr Deutlichkeit: Der alte Mann und die Gans – Bescheidenheit, Ehrfurcht und Liebe vor dem Geheimnis des Lebens.