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Guten
Abend!
Am Abend jedes Schöpfungstages steht im
Schöpfungsbericht unserer Bibel: Und Gott sah, daß
es sehr gut war. Sogar nach dem Erscheinen des Menschen noch.
Warum breitet sich da zunehmend die Sorge aus, die Sache könnte
mit uns doch noch schiefgehen?
Unter der Oberfläche
des gängigen Fortschritts-Optimismus herrscht Ratlosigkeit.
Jeder wache Verstand beginnt zu ahnen, daß es mit den
jetzigen Leitvorstellungen wohl nicht weitergehen kann. Wenn ein
Problem auftaucht machen Experten sich daran, es zu lösen,
doch fast immer schafft die Lösung mehrere neue Probleme.
Wenn aus einem Problem zwei werden, dann werden aus den zweien
vier, acht, sechzehn – Sie wissen aus der Geschichte von
den Reiskörnern auf den Feldern des Schachbrettes, wohin das
führt. Meist greifen die neuen Probleme noch weiter aus,
werden global und bedürfen noch dringender der Lösung.
Daß
dieser Wettlauf zwischen Problemlösung und Problemerzeugung
eine Instabilität des Fortschritts bedeutet, ist nun auch
dem Bundespräsidenten aufgefallen, der sich doch mit seiner
berühmten „Ruck-Rede“ noch unter die
Einpeitscher gereiht hatte. In seiner Göttinger Rede am 4.
Oktober, zum 120. Jubiläum der Görres-Gesellschaft,
sprach er einerseits vom ungeheuerlichen Erfolg und
atemberaubenden Fortschritt von Wissenschaft und Technik,
andererseits von seinen Zweifeln, ob dadurch eine lebensfähige
Selbstorganisation der Menschheit auf unserem immer enger
werdenden Planeten gesichert sei. Er sagte: „Vor allem aber
drängt sich mir die Frage auf: Wird durch die einseitige
Betonung der Frage ‚Was können wir alles noch?‘
nicht die viel entscheidendere Frage ‚Was wollen wir
eigentlich?‘ vergessen.“ Offenbar sieht Roman Herzog
nun: Zum sogenannten Erfolg gehören auch die
ungeahnten Folgen – für Juristen gar nicht so
selbstverständlich und für manche Wissenschaftler
geradezu eine Beleidigung. Wissenschaftsfunktionäre sprechen
ja in ihren Festreden gerne von der Wertfreiheit der
Wissenschaft und, fast im gleichen Atemzug, vom
wissenschaftlichen Ethos. Gemeint ist mit diesen
Schlagworten: Wenn die Forscher und Bastler nur mit gutem Willen
und mit bestem Wissen und Gewissen, wie man sagt, voranstürmen,
so sind sie nicht verantwortlich zu machen, falls etwa die ganze
von ihnen angeführte Gesellschaft dabei ins Chaos gerät.
Es heißt dann: Nach dem damaligen Stand von Wissenschaft
und Technik war das nicht vorhersehbar. Also war niemand
schuld!
Der Bundespräsident fragte, ob allein die
Eigendynamik der Wissenschaft Tempo und Ergebnisse bestimmen
solle, oder ob nicht auch gesellschaftlich formulierte Ziele und
Grenzen berücksichtigt werden müssen. Aber natürlich
mußte er sogleich hinzufügen, daß über die
neu eröffneten Welten nur Spezialisten vernünftig
sprechen können. Die demokratische Gesellschaft und selbst
ihre Ethik-Kommissionen sind also auf den Rat gerade der
abenteuerlustigen Anführer angewiesen. So bestimmen vor
allem jene Könner, was wir wollen.
Wenn Kinder
auf einer Bergwanderung voranstürmen, ebenfalls besten
Willens natürlich, gehen wir anders mit diesem Problem um.
Auch wenn wir noch keine Abgründe sehen, sondern sie nur in
der Nähe vermuten müssen. Wer aber übernimmt die
Elternrolle angesichts der ungestümen Dynamik neugieriger
Wissenschaftler? Die ganze Wandergesellschaft ist ja noch
kindischer als die zappeligen Anführer, und gerade die
wagemutigsten Unternehmungen werden deshalb hoch belohnt.
Zur
Überwindung dieses Dilemmas empfiehlt Roman Herzog die Frage
„Was wollen wir eigentlich?“ wieder in den
Mittelpunkt gesellschaftlicher Debatten zu rücken. Er hofft
offenbar, wir wüßten noch, was wir wollen. Und
er endet mit den Worten: „Es gehört zur Wissenschaft,
daß sie die Denk- und Erfahrungsgeschichte der Menschheit
kennt und in die aktuellen Diskurse einbezieht. Ohne die
Erinnerung wird sie nicht nur unhistorisch, sondern letztlich zur
reinen Ideologie. So kappt sie ihre eigenen Wurzeln. Diese
Wurzeln liegen in der Geschichte der Vernunft, die nie nur nach
dem gefragt hat, was funktioniert, sondern nach dem, was wahr und
gut ist.“
Schöne Schlußworte einer
Festrede! Zyniker werden sagen: Die Geschichte der Vernunft –
das ist die Geschichte der Unterdrückung der Vernunft durch
den Verstand im Dienste der Macht, durch all die Experten für
Brot und Spiele und Eroberungszüge und sogar fürs Wahre
und Gute. Experten allerdings werden sich meist weigern, zwischen
Verstand und Vernunft überhaupt zu unterscheiden; wahr und
gut ist letztlich, was funktioniert, meinen sie.
Auch ich
neige zu dieser Ansicht. Wenn der Verstand nicht zur Vernunft
kommt, ist er nicht lebensfähig. Aber ich glaube er kommt
aus eigener Kraft zur Vernunft. Wenn nicht, so scheint es mir
schon an Verstand zu fehlen. Wer also ist gefragt: Was wollen
wir eigentlich? Die Wissenschaftler? Deren Antwort kennen wir ja:
Für die Frage nach dem Wollen sind wir nicht
zuständig; wir bieten mit unseren Entdeckungen und
Entwicklungen neue Optionen an; unter diesen kann dann die
Gesellschaft wählen. Und wie viele neue Optionen wollen wir?
So viele wie möglich natürlich. Wie viele pro Jahr
also? Pro Tag? Pro Sekunde? vielleicht pro Nanosekunde? –
Wer ist zuständig für die Frage nach dem Wollen?
Niemand! Das brauchen wir nicht zu entscheiden. Das läuft
alles durch Selbstorganisation, wie die ganze Geschichte unserer
Welt von Anfang an – das hat uns doch nun die Wissenschaft
überzeugend gelehrt.
Um die Logik lebensfähigen
Funktionierens zu begreifen, müssen wir die Vorgeschichte
von Verstand und Vernunft betrachten. Erst als diese Fähigkeiten
in die Welt kamen wurde es ja gefährlich. Das erzählen
uns alle Schöpfungsmythen. Der Teufel erscheint erst
beim Übergang vom sechsten zum siebten Tag mit der
überwältigenden Innovation des menschlichen Großhirns
und der kulturellen Selbstorganisation vieler Hirne. Und
globale Erfolge kann der Teufel erst erringen, seit die
Wissenschaft die Führung übernimmt. Hier findet ja,
unter den Bedingungen beim Marsch zum Höhepunkt der Krise,
notwendigerweise eine Auslese gegen die Vernunft statt:
Wer Skrupel hat, scheidet aus.
Der Schöpfungsprozeß
– so nennen wir die seit etwa 15 Milliarden Jahren
andauernde Auswahl von Gutem aus der Menge des Wahren. Die
Naturwissenschaft hat für diesen Prozeß ein
überzeugendes Bild entworfen: Alles, was unserer Beobachtung
zugänglich ist, folgt den gleichen Naturgesetzen und hat
eine gemeinsame Geschichte. Nur deshalb können wir ja
überhaupt von unserem Universum sprechen. Und diese
unsere Welt entsprang einem ungeheuer simplen Zustand, den wir
den Urknall nennen. Anfangs war alles eins. Vielleicht so
einheitlich wie möglich. Und das alles flog so gleichmäßig
wie möglich auseinander. Doch dieser simple Beginn und die
Gesetze bestimmen nicht etwa, wie alles weitergeht – wie
sollten sie das denn in der gewaltigen Menge von Möglichkeiten.
Mit den Naturgesetzen wäre es doch sicher auch verträglich
gewesen, wenn meine Mutter meinen Vater nicht getroffen hätte.
Die Auswahl des Wirklichen aus dem Möglichen geschieht viel
mehr durch unermeßlich viele Zufälle. Die Physik
unseres Jahrhunderts hat uns gelehrt: Die Grundgesetze selbst
sorgen für ständiges zufälliges Herumzappeln. Die
Wirklichkeit muß ungeheuer viele Möglichkeiten
abtasten um ihren Weg ins Reich des Möglichen zu finden. Wo
wird sie dabei wohl länger verweilen? Darauf kommen wir
gleich zurück.
Wie unvorstellbar viele Möglichkeiten
es gibt, ahnen Sie schon, wenn Sie sich die verschiedenen Muster
vorstellen, die man mit geraden Strichen zwischen ein paar
Punkten zeichnen kann. Bei zwei Punkten gibt es nur zwei
Möglichkeiten: Man kann einen Strich ziehen oder nicht. Bei
drei Punkten können Sie ein Dreieck zeichnen, oder zu je
einem der drei Winkel seine zwei Schenkel, oder nur jeweils eine
Dreiecksseite, oder nur die nackten Punkte ohne Strich. Das sind
also acht verschiedene Beziehungsmöglichkeiten. Bei vier
Punkten ergeben sich schon 64. Wer es noch mit fünf Punkten
probieren möchte, entdeckt dabei vielleicht die Formel, mit
der sich folgende Frage beantworten läßt: Wie viele
Punkte müßte ich nehmen, damit die Anzahl
verschiedener Muster größer wird als die Zahl der
Atome im beobachteten Universum? Nun, wir schauen etwa zehn
Milliarden Lichtjahre weit, und die mittlere Materiedichte ist
ganz grob 1 Atom pro Kubikmeter – offenbar eine ziemlich
große Zahl von Atomen im Weltall, nicht wahr? Aber für
nur 24 Punkte ist die Anzahl verschiedener
Beziehungsmöglichkeiten bereits größer.
In
der wirklichen Welt gibt es also eine unvorstellbare Menge
möglicher Strukturen und Prozesse. Hier treten ja nun die
Atome in gegenseitige Beziehung, und nicht nur durch gerade
Striche. Unmöglich also, daß der simple Beginn und die
Gesetze die weitere Entwicklung im Detail vorherbestimmten. Daß
unsere Milchstraße, unsere Sonne, unsere Erde da sind, daß
hier Leben entstand, daß dieses zu raffinierten Mustern
zwischen hundert Milliarden Hirnzellen gelangte, und daß
schließlich noch Beziehungen zwischen Milliarden
Menschenhirnen heranwuchsen, daß Mutter und Vater sich
trafen, daß ich hier spreche und Sie mir zuhören –
wie kam das alles? Wie fand die Wirklichkeit mit der Zeit gerade
diese Gestalten im Raum der Möglichkeiten?
Das
heutige wissenschaftliche Weltbild erlaubt eine Antwort auf diese
Frage. Zwar ist die Suche nach „letzten“
Naturgesetzen keineswegs zu Ende, ja vielleicht kann sie gar
nicht enden. Sogar der Wirklichkeitsbegriff der modernen Physik
ist ungeklärt, und wir können natürlich auch nicht
sicher sein, ob die bisher untersuchten physikalischen
Wechselwirkungen alle unsere bisherigen Erfahrungen möglich
machen. Sollte es, zum Beispiel, doch so etwas wie
„außersinnliche Wahrnehmung“ geben, wäre
das ja vielleicht nicht der Fall. Und doch genügt schon das,
was wir über Materie in Raum und Zeit herausgefunden haben,
um das Prinzip des Schöpfungsprozesses zu erkennen.
Da ist einerseits der Raum der Möglichkeiten. Er hat
viele Namen, man nennt ihn auch das „Reich der Ideen“
oder den Himmel, die Ewigkeit. Und da ist andrerseits die
Wirklichkeit, die sich in dieser geistigen Welt durch
zufälliges Zappeln einen Weg sucht und dabei eine winzige
Auswahl des Möglichen verwirklichen muß. Auf den
ersten Blick mag es absurd erscheinen, daß die wunderbaren
Gestalten unserer Welt durch Zufall gefunden worden sein könnten.
Aber mit etwas Nachdenken sehen wir leicht ein: sie sind nur
durch Zufälle zu finden. Der Zufall ist gewissermaßen
die einzige Notwendigkeit im Schöpfungsprozeß.
Wenn
wir diese Zufälle zurückverfolgen verzweigt sich die
Geschichte in immer mehr und immer kleinere Zufälle. Und gar
nicht weit zurück stoßen wir auf winzige Zufälle,
ohne die alles ganz anders hätte kommen können. Viele
von Ihnen kennen das wohl schon als den „Schmetterlingseffekt“
aus der Chaostheorie des Wetters: Auch ohne Quantenphänomene
ist es schon so, daß das heutige Wetter hier ganz anders
sein könnte, wenn etwa vor genau einem Jahr an einer Stelle
in Neuseeland nicht gerade ein Schmetterling mit seinen Flügeln
geflattert hätte. Das heißt nicht etwa, daß
jenes Flattern die Ursache des heutigen Wetters war – es
gibt vielmehr fast unendlich viele solcher winzigen Ursachen, und
es ist daher ganz allgemein Unsinn, von „Kausalketten“
zu sprechen. Es handelt sich ja vielmehr bei fast allem Geschehen
um fast unerschöpfliche Vernetzungen. Aber es ist eben doch
so, daß ohne dieses Flattern und ohne unermeßlich
viele andere derartige Zufälle das Wetter heute und hier
ganz anders sein könnte. Und wenn wir die kleinen Zufälle
noch ein wenig zurückverfolgen, stoßen wir bald auf
den Einfluß der echten Zufälle, nämlich der
quantentheoretisch unvermeidlichen zufälligen
Schwankungen.
Der Raum der Möglichkeiten ist aber
erfüllt von unermeßlich vielen Gestalten. Den meisten
kommt die Wirklichkeit bei ihrem zufälligen Gezappel niemals
nahe, doch muß sie durch ihre zufälligen Schwankungen
ständig benachbarte Möglichkeiten abtasten und dabei
viele verschiedene Gestalten berühren. Die meisten davon
werden beim weiteren Gezappel wahrscheinlich rasch wieder
verlassen. Aber gelegentlich finden sich auch sehr „attraktive“
darunter. Systemtheoretiker nennen solche Gestalten der möglichen
Systemzustände Attraktoren. Deren innere und äußere
Organisation sorgt dafür, daß sie nicht so leicht
wieder verlassen werden wenn die Wirklichkeit einmal in ihren
Einzugsbereich geraten ist.
Schauen wir solche bewährten
Gestalten näher an, so sehen wir: sie sind zyklischer
Natur. Beim Durchlaufen des Zyklus geschieht im Wesentlichen
immer wieder das Gleiche – denken Sie nur ans Atom. Genau
darin liegt ja die Bewährung, die Lebensfähigkeit der
Gestalt.
Als unsere Welt im Urknall auf ihren Weg
entlassen wird ist da nur diese eine, einzige, einheitliche
Anfangsidee verwirklicht, aber schon in den ersten
Sekundenbruchteilen werden mögliche Elementarteilchen
durchprobiert, und die dauerhaftesten bleiben. Dann kann am Ende
des Schöpfungstages stehen: Siehe da, es war sehr gut. Und
doch bricht ein neuer Tag an. Die gelungenen Gestalten bleiben,
immer wieder werden ihre Zyklen durchlaufen. Aber im weiteren
Geprassel der Zufälle finden sie gemeinsam „höhere“
attraktive Gestalten. Diese sind durch schwächere
Wechselwirkungen organisiert als ihre „Bauteile“, die
Errungenschaften des vorigen Tages; eben deshalb werden ja diese
alten gelungenen Gestalten nicht verlassen. Der Übergang zu
einem neuen Schöpfungstag bedeutet, daß das Gezappel
der zuvor gefundenen bewährten Gestalten einen neuen Bereich
im Raum der Möglichkeiten eröffnet. In diesen hinein
stößt nun die Wirklichkeit relativ schnell weiter vor.
Naturgemäß sind es vor allem ungewöhnlich große
Zufälle, Unfälle, die in solches Neuland führen.
Die letzten Raffinessen des vorangegangenen Schöpfungstages
mögen dabei im heftigen Gezappel untergehen. Aber mit dem
verbliebenen Bewährten wird doch weiter geknetet bis es
wiederum heißt: Und siehe da, es war sehr gut.
Warum
denn, warum geht es in diesem Schöpfungsprozeß, im
evolutionären Selbstorganisationsprozeß der Materie
in Raum und Zeit, wie wir das heute nennen, warum geht es da
„aufwärts“ zu immer höherer Komplexität,
zu immer schöneren, wertvolleren Gestalten, wie wir es
empfinden?
Nun, komplex bedeutet „verflochten“
(lat. plectere). Das heißt: komplex bedeutet
„passend zusammengefügt“. Wenn die Wirklichkeit
immer wieder übergeordnete Gestalten findet die mit immer
schwächeren Wechselwirkungen organisiert sind, so bedeutet
das ja gerade, daß in ihnen die Dinge besser
zusammenpassen. In einem genügend reichen Raum der
Möglichkeiten ist also der Aufstieg zu höherer
Komplexität eine logische Selbstverständlichkeit:
Wahrscheinlich überlebt Überlebensfähigeres. Oder,
noch krasser tautologisch formuliert: Wahrscheinlich geschieht
Wahrscheinlicheres.
Wunderbar, was die Wirklichkeit der
Elementarteilchen, der Himmelskörper, der irdischen
Biosphäre, der menschlichen Noosphäre in diesem Prozeß
bereits gefunden hat, nicht wahr? Wer mag sich da nicht
zurücklehnen und mit freudiger Spannung erwarten, was uns
der Himmel als nächstes bietet!
Aber nun kommt der
Pferdefuß in diesem Schöpfungsprinzip. In einem
räumlich isolierten Bereich führt der erfolgreiche
Aufstieg selbst, ganz ohne äußere Unfälle,
unvermeidlich in eine Krise. Ich nenne sie die globale
Beschleunigungskrise. Ihre logische Struktur ist so einfach
wie das Schöpfungsprinzip selbst. Zu jeder Zeit wird ja an
der jeweiligen Front im Reich der Möglichkeiten das Tasten
nach neuer Wirklichkeit von gewissen führenden Gestalten
bestimmt, nämlich von jenen, die am schnellsten zu neuen
Attraktoren vorankommen. Solange noch neue lebensfähige
Gestalten erreichbar sind wird also die
Innovationsgeschwindigkeit anwachsen, und die neuen
Gestaltprinzipien werden sich auch geographisch zunehmend
durchsetzen. Kurz gesagt: das Schnelle und das Große
haben im Auswahlprozeß einen selektiven Vorteil. –
Wie lange wohl? Gibt es da kritische Grenzen?
Nun, die
Erde ist rund, und der umgebende Weltraum zu leer. Die
Organisation im Großen kann also nicht die Globalität
überschreiten. Aber es gibt auch eine zeitliche
kritische Grenze. Wenn die Innovationsfähigkeit so weit
gestiegen ist, daß innerhalb der Zykluszeit der führenden
Gestalten zu ganz anderen Attraktoren gesprungen wird, so wird es
immer unwahrscheinlicher, daß Neues und Altes
zusammenpassen. Dann steigt die Wirklichkeit nicht mehr aufwärts
zu höherer Komplexität, sondern sie beginnt im Reich
der Möglichkeiten abwärts zu taumeln. Dabei tauchen
Probleme auf, wie man sagt, die Dinge passen nicht mehr zusammen.
An der Front werden die Probleme zunächst mit noch
schnellerer Innovation vordergründig gelöst. Aber die
Anführer koppeln sich dabei immer weiter vom evolutionären
Hinterland ab. So erzeugt jede Problemlösung wahrscheinlich
mehrere neue Probleme. Und wie wir sahen: Die neuen greifen
räumlich noch weiter aus und bedürfen dringend noch
rascherer Lösung. So verstärken sich Eile und Einfalt
gegenseitig bis zum Erreichen des Höhepunkts der Krise.
Mir
leuchtete diese Logik erstmals ein, als ich in der Mitte meines
Lebens die Welt meiner Kindheit nicht wiederfand, die ich kennen
und lieben gelernt hatte. Meine Kinder machen diese Erfahrung nun
schon am Ende ihrer Schulzeit.
Lokal gesehen gibt es das
schon lange als menschliche Erfahrung, mindestens seit Beginn der
Kulturentwicklung. Aber nun gilt es weltweit: Bevor unser
Generationenzyklus nur einmal durchlaufen ist findet sich nicht
nur unsere kulturelle Wirklichkeit in völlig neuen Bereichen
des Raumes der Möglichkeiten, sondern sogar das Klima der
Erde droht umzukippen, und die Biosphäre wird stündlich
um etwa zehn Arten ärmer – innerhalb eines
Menschenalters verschwindet ein wesentlicher Teil von ihr. Es
wäre kindisch, das für unkritisch zu halten.
Etwa als sagte man: Es kann doch den Blüten egal sein ob der
Stamm abgesägt oder die Wurzeln ausgerissen werden.
Wir
sehen nun: Die Krise ist logisch unvermeidbare Folge des
Schöpfungsprinzips, aber sie konnte auf unserem Planeten
erst mit dem Menschen erreicht werden. Zwar war der
Schöpfungsprozeß in Versuch und Irrtum von Anfang an
ein Wettspiel von Problemlösung und Problemerzeugung; zwar
hatte natürlich auch in der Entwicklung des Lebens schon die
schnellere Innovation einen selektiven Vorteil, zum Beispiel
setzte sich ja die Entdeckung der sexuellen Fortpflanzung so
rasch durch, weil sie in jedem Schritt viel mehr Möglichkeiten
zur Auswahl stellte und damit ein schnelleres Vorankommen im Raum
der Möglichkeiten erlaubte. Aber im Aufstieg des Lebendigen
mußte doch jede zufällige Änderung über
viele Generationen hinweg auf ihr Zusammenpassen mit der ganzen
Biosphäre hin getestet werden bevor sie sich etwa in den
Genpool einer Art ausbreiten konnte. Schnelle Innovation –
schnell im Vergleich zum Reproduktionszyklus – war also mit
biologischen Mitteln unmöglich. Aus eigener Kraft konnte die
Biosphäre nicht abstürzen, weil immer genügend
Vielfalt für viele verschiedene Versuche und genügend
Zeit zum rechtzeitigen Erkennen grober Irrtümer
vorhanden waren. Selbst nach Entwicklung des menschlichen
Großhirns und in den Anfängen der Kulturentwicklung
war der Aufstieg zu höherer Komplexität noch
wahrscheinlich. Eine raffinierte Verflechtung angeborener
Verhaltensweisen und kultureller Tradition ließ es nicht
zu, daß bewährte Leitideen rasch verlassen wurden. Das
Wort Ethik kommt bekanntlich vom griechischen ethos,
und das bedeutet „Gewohnheit“. Der Höhepunkt der
globalen Beschleunigungskrise war erst mit dem Fortschritt von
Wissenschaft und Technik erreichbar. Deren Erfolge ließen
den raschesten Wandel zur Gewohnheit werden, zur fixesten
globalen Leitidee. Sie alle haben das sicherlich im Ohr: In
unserer Zeit des rasanten weltweiten Wertewandels...! Die
Diagnose stimmt. Aber der gängige Therapievorschlag, wir
bräuchten deshalb noch schnellere Innovation und mehr
globale Vereinheitlichung, ist natürlich absurd.
Die
Eröffnung dieses Neulandes im Raum der Möglichkeiten
durch die Entdeckung der Möglichkeiten großer
neuronaler Netze in der Hirnrinde war vermutlich Folge des letzen
großen globalen Unfalles von außen. Vor etwa 65
Millionen Jahren traf ein kleiner Asteroid, ein Stein von der
Größe des Montblanc, die Erde. Die klimatischen Folgen
ließen nicht nur die Saurier aussterben, sondern auch viele
andere hochspezialisierte Arten. In den entstandenen ökologischen
Nischen wurden dem evolutionären Gezappel der verbliebenen
Basis viele neue Gestalten erreichbar. In nur zehn Millionen
Jahren stürmten Säugetiere und Vögel an die Front
des biologischen Fortschritts. Der sechste Schöpfungstag
näherte sich dem Ende, und schon die Mythen unserer
Vorfahren berichten, wie nun die neue Wirklichkeit in den
Einzugsbereich einer zuvor einflußlosen geistigen Gestalt
geraten mußte: Der Engel Luzifer, das ist der
„Lichtbringer – wie Prometheus, der
„Vordenker“, der den Menschen das Feuer vom Himmel
brachte – dieser Engel hat all die Tage lang, die ja
Milliarden Jahre währten, der Schöpfung zugesehen und
die Naturgesetze verstanden. Er weiß wie Atome und Moleküle
funktionieren, die Chemie, der genetische Code, die lebendige
Zelle, die Organe, das Hirn, die Kommunikation, der Markt, die
Werbung – warum soll er da so lange warten! Das muß
auch schneller gehen. – Nach dem Absturz hat er bekanntlich
einen anderen Namen: Er heißt nun nicht mehr der
„Lichtbringer“ sondern der „Durcheinanderwerfer“,
griechisch diabolos. Aber böse ist doch dieser
Teufel eigentlich gar nicht. Ist es nicht eher Dummheit, was uns
daran hindert, die logischen Voraussetzungen erfolgreicher
Schöpfung zu erkennen?
Vielfalt und
Gemächlichkeit – mit diesen Schlagworten habe
ich die Bedingungen lebensfähigen Fortschritts oft
bezeichnet. Beide werden in der globalen Beschleunigungskrise
notwendig zerstört, aber durch entsprechende
Selbstorganisation der menschlichen Freiheit sind sie wieder
herstellbar und dauerhaft zu garantieren. „Krise“
heißt Entscheidung, nicht Untergang. Der menschliche
Verstand, der unsere Erde in diese Krise hineintreiben mußte,
kann nun ihr Wesen wissenschaftlich begreifen, und die
„Systemtheorie von Gott und Teufel“ liefert einfache,
logisch selbstverständliche, also unwiderlegbare Argumente
für die bevorstehende Entscheidung gegen den
Untergang.
Mancher wird meinen, in dem was ich hier sage
läge ein fundamentaler Widerspruch. Die Krise ist doch
offenbar dringend, wir müssen schnell heraus
und global. Sollen wir in Eile zur Gemächlichkeit
und global zur Vielfalt? – Das ist aber kein
Widerspruch, das ist das Wesen globaler Instabilität!
Diese Instabilität definiert selbst die Zeit bis zum
Aufprall. Denken Sie etwa an einen Fluß, auf dem wir alle
rudern, flußabwärts, weil‘s da so gut geht, und
vorne hören wir einen Wasserfall; die Zeit, in der wir noch
ans Ufer kommen müssen, ist durch den Fluß vorgegeben.
Wir müssen also schnell aussteigen aus dem, was wir zur Zeit
falsch machen.
Morgen möchte ich die attraktiven
Ideen, die uns noch immer tiefer in die Krise treiben, etwas
näher untersuchen. Wir müssen verstehen, wodurch
eigentlich der absurde Wettbewerb innerhalb der Menschheit
organisiert ist, jenes Rennen, von dem es heißt: Wer
nicht vorne ist, der geht unter – und für das doch
niemand ein Ziel nennen kann. Das einzige Ziel ist anscheinend:
Es muß schneller werden!
Satirische
Pointierung wird sich also morgen kaum vermeiden lassen. Ein paar
Kinderfragen werden uns dann überzeugen: die sogenannten
Sachzwänge liegen eher in Denkfehlern – sind also
überwindbar. Übermorgen folgt dann der letzte Vortrag,
in dem ich die Gesellschaft des „Siebten Tages“ so
skizzieren möchte, daß in vielen Köpfen ein
attraktives Bild entstehen kann.
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Guten
Abend!
Gestern habe ich versucht, ein Weltbild zu
skizzieren, in dem wir verstehen können, unter welchen
Bedingungen die Schöpfung „aufwärts“ führt,
zu „gelungenen“ Gestalten, die zusammenpassen. Und
wir sahen dabei, daß in dieses Prinzip der Schöpfung,
das so lange aufwärts führte, ein Problem eingebaut
ist, eine logisch unvermeidliche Krise, die ich die globale
Beschleunigungskrise nannte. Heute möchte ich nun
zunächst zeigen – anhand von ganz aktuellen Beispielen
aus der politischen Diskussion – wie das Rennen zum
Höhepunkt der globalen Beschleunigungskrise im einzelnen
organisiert ist. Morgen werden wir dann fragen, ob angesichts der
systemtheoretischen Logik überhaupt Rettung möglich
ist, und vor allem wollen wir dann die Annäherung an
lebensfähigere Ideen versuchen. – Zunächst also
zur Organisation der Krise.
Die liegt natürlich
darin, daß die zuletzt erfolgreichsten Ideen weiterhin
naheliegen und attraktiv sind. Das sind: die wirtschaftliche
Wertschöpfung und die wissenschaftlich-technische
Innovation. Ändern soll sich nur, daß beides immer
schneller und globaler vonstatten gehen soll. Und
diese Macht der alten Attraktoren ist durch mächtige
gesellschaftliche Institutionen gesichert. Dennoch können
wir logisch einsehen, daß beide Ideen zusammenbrechen
müssen. Das hat natürlich damit zu tun, daß beide
keine vernünftigen Wertvorstellungen haben. In der
Wirtschaft gilt etwas als wertvoll, wenn dafür bezahlt wird,
und die Wissenschaft definiert sich, wie wir sahen, sogar
ausdrücklich als wertfrei. Beide berufen sich auf die
Demokratie: wenn die Mehrheit etwas will, hat sie recht! Was sie
will, ist prinzipiell gut. Manche Anführer glauben sogar,
sie haben deshalb recht, weil eine Mehrheit sie gewählt hat.
Unfug! In einer globalen Instabilität hat logischerweise die
Mehrheit unrecht! Das spricht nicht gegen die Idee der
Demokratie, aber wohl für Fortschritte bei der „Erziehung
des Menschengeschlechts“, wie das einmal genannt wurde. Wir
werden morgen sogar sehen, daß gerade die weitere
Demokratisierung, die Fortsetzung der Emanzipation von allerlei
Mächten, die Rettung wahrscheinlich machen wird. Es sind
also nicht etwa alle attraktiven Ideen der Moderne nicht mehr
lebensfähig – ganz im Gegenteil! – nur die
übergeordneten Leitideen sind falsch geworden. Sonst ist
fast alles immer noch sehr gut. Sonst wäre ja die
Lage hoffnungslos – in der Eile!
Zunächst zur
Wissenschaft. – Wir haben heute Experten für lauter
enge Bereiche, weil das Wissen so viel geworden ist, daß
ein Einzelner es gar nicht überblicken kann. Wir haben aber
keine Experten fürs Zusammenpassen – das ist
auch gar nicht möglich. Komplexität geht bei der
Analyse verloren. Natürlich werden die Experten von denen
benutzt, die Macht haben und behalten wollen. Das entspricht dem
alten Wort divide et impera! – teile und herrsche!
Wir wissen ja, daß unter den Leistungen von Wissenschaft
und Technik der letzten hundert Jahre nun sogar das Klima der
Erde umzukippen droht. Ein paar Spurengase in die Atmosphäre,
und alles ändert sich – nun ja, denken wir uns nur,
wir hätten 24 neue Stoffe in der Atmosphäre: wer könnte
denn vorhersagen, was zwischen denen für verschiedene
Beziehungen möglich sind? Denken Sie an das Beispiel von
gestern abend! Das läßt sich nicht vorhersagen, auch
nicht mit den größten Computern zuverlässig
ausrechnen. Oder die Ozonschicht, die wir innerhalb weniger
Jahrzehnte schon beinahe abgebaut haben: geschaffen wurde sie vom
Lebendigen im Laufe von hunderten von Millionen Jahren, und nur
durch sie konnte das Leben „höher“ aufsteigen,
weil die ultraviolette Strahlung der Sonne dadurch zurückgehalten
wurde, die höhere Komplexität verhindert hätte.
Das heißt: das Leben hat sich selbst die Bedingungen
geschaffen, unter denen es höher klettern konnte. Die
Zerstörung des Strahlungshaushalts der Erde ist eine
Wahnsinnshandlung! Es finden ja nun auch ständig
Konferenzen darüber statt. Aber Beschlüsse lassen sich
offensichtlich immer noch nicht fassen. Oder denken wir ans
Artensterben – schon erwähnt: innerhalb einer
Generation reduzieren wir die Biosphäre so etwa auf die
Hälfte! Oder die Chemie: stündlich erfinden wir
ungefähr ein neues Molekül, grad in dem Tempo, in dem
die Arten aussterben, beinah. Und die neuen Moleküle hat es
vielleicht im ganzen Universum zuvor nicht gegeben – die
Menge der Möglichkeiten ist unerschöpflich! Aber wir
wollen das Neue möglichst auch gleich Millionen-Tonnen-weise
verkaufen und freisetzen! Kann das gutgehen? Die
Wahrscheinlichkeit ist offenbar gering. Oder, was wir schon
erwähnt haben: der Genpool aller Arten, in den nun die
Forscher hineinlangen, um zu unserem Segen und Profit neue
Lebensformen zu schaffen. Die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen,
daß das gutgehen kann, beim besten Willen! Aber wer das
sagt, gilt als Panikmacher. Wir wissen doch, wenn eine
Katastrophe eintritt dann heiß es: „Das war mit dem
damaligen Stand von Wissenschaft und Technik nicht vorhersehbar.
Also ist niemand schuld.“
Oder denken wir an eine
andere moderne Folge von Technik und Wissenschaft: die ungeheure
Zunahme der Kommunikation. Kommunikation mündiger Bürger
sollte doch etwas gutes sein! Aber man vergißt:
Kommunikation braucht Gemeinsamkeit, Kommunität, und
die wächst ganz langsam. Man kann nicht mit allen Menschen
auf der Erde vernünftig kommunizieren – dabei ergibt
sich Chaos. Man braucht für wirkliche Kommunikation
Vertrauen, und Vertrauen ist wohl nur hierarchisch
organisierbar; eine Hierarchie des Vertrauens aufbauen, das geht
nicht mit Massenmedien. Sind also auch andere Formen der
Demokratie notwendig? Sollten wir nicht auch darüber
wissenschaftlich, also systemtheoretisch nachdenken, ob die
Organisation der Demokratie sich verbessern läßt? Die
Vorstellung des mündigen Bürgers, der aus 99 Kanälen
sich das richtige herauspickt und damit die Welt verbessern kann,
ist einfach kindisch.
Besonders absurd ist das natürlich
in der Ökonomie – falls wir diese unter die
Wissenschaften zählen dürfen. Schon vor der ersten
Seite ihrer Lehrbücher wird meist stillschweigend
vorausgesetzt, was herauskommen soll. Dort spielt eine große
Rolle der homo oeconomicus, der alles sofort überblickt
und unverzüglich zum langfristig größten Vorteil
handelt; und wenn viele das so tun, dann sorgt die Unsichtbare
Hand dafür, daß es auch im Ganzen gutgeht. Diese
Vorstellung enthält überhaupt nicht das Problem der
Zeit, die gebraucht wird um abzuwägen und vernünftige
Entscheidungen zu treffen. Das ist auch einer der Gründe,
warum die Wirtschaftstheorien so wenig mit der Wirklichkeit zu
tun haben. Schon die Grundbegriffe enthalten fatale innere
Widersprüche. Das wird auch deutlich in den pädagogischen
Reden des Bundespräsidenten, der uns für die globale
Konkurrenz fitter machen wollte. Erinnern Sie sich, wie
beeindruckt er seinerzeit aus Asien zurückkam? Die
Wolkenkratzer und die Wachstumsraten! Da sollten wir uns ein
Beispiel nehmen – an Indonesien und Malaysia! Aber ist das
nicht als tadelte ich meinen Achtzehnjährigen: „Wieder
bist du kaum gewachsen dieses Jahr! Nimm dir doch ein Beispiel an
deiner kleinen Schwester!“ Wie kindisch, sich beim
Erwachsenwerden der Wachstumsschwäche zu schämen! Das
weiß doch schon der Jugendliche, daß nun andere
Aufgaben bevorstehen! Offensichtlich ist in den führenden
Industrienationen jetzt etwas ganz anderes fällig als
sogenanntes „Wirtschaftswachstum“! Und das zeigen
nicht nur die ökologischen und gesellschaftlichen
Zerstörungsprozesse, für die ja viele kein Gespür
haben, nein, auch auf der Oberfläche, im Wirtschaftsleben,
meldet sich nun eben dieses garstige Jucken, und alle verordneten
Salben scheinen es nur schlimmer zu machen. – Daß
etwas nicht zusammenpaßt merkt jeder. Offenbar muß
alles anders werden. Und immer mehr Anführer aus Politik und
Wirtschaft heben Stimme und Zeigefinger oder die Peitsche, um
Aufbruchsstimmung zu verbreiten. Ein Ruck muß durchs
Land gehen! Die Welt ist im Aufbruch und wird nicht auf
Deutschland warten! – Aber wohin es gehen soll,
bleibt vage. Das Volk soll sich aus seiner Depression befreien
und die lähmende Wachstumsschwäche überwinden!
Alle Besitzstände müssen auf den Prüfstand! Eine
Vision brauchen wir, eine Gesellschaft der Selbständigkeit,
in der Freiheit der zentrale Wert ist! Wenn wir alle Fesseln
abstreifen, müssen wir es schaffen wieder eine
Spitzenposition einzunehmen und eine Welle neuen Wachstums
auszulösen, das neue Arbeitsplätze schafft!
Er
hat viel Lob bekommen für diese Worte. Warum erfaßt
uns nicht endlich jene Dynamik, die Roman Herzog damals in Asien
so faszinierte? Vorwärts endlich – ins vorige
Jahrhundert! Aber Sie wissen, inzwischen ist ja in Asien einiges
geschehen.
Was muß heute eigentlich wachsen, damit
es uns besser geht? Die Weisen sagen noch immer: das reale
Sozialprodukt, die sogenannte Wertschöpfung. Was sind das
für Werte, die wir da schaffen? Offenbar dient die
wirtschaftliche Aktivität in entwickelten Ländern
überwiegend nicht mehr dem Wohl der Bürger.
Übrigens predigen das auch die Experten schon lange, ohne
freilich zu merken, was sie da sagen: Wenn das reale
Bruttosozialprodukt nicht wächst, geht es uns schlechter.
Mit anderen Worten: Wenn wir heuer das gleiche tun wie voriges
Jahr, so geht‘s begab. Merkwürdig – wenn wir
doch dauernd Werte schaffen! Das muß doch wohl bedeuten
(wenn uns nicht ständig von außen Gewalt angetan
wird): Unser eigenes Tun richtet insgesamt mehr Schaden als
Nutzen an! Tun wir noch mehr vom Gleichen, um das Sozialprodukt
wachsen zu lassen, wird‘s also wohl noch schneller bergab
gehen, nicht wahr?
Das ist kein scheinbares Paradox,
sondern ein echter innerer Widerspruch unserer Leitideen. Im
Bruttosozialprodukt wird ja einfach alles, was Geld gekostet hat,
aufaddiert – es gibt gar kein negatives Tun! Noch die
schlimmste Zerstörung trägt positiv bei! Das heißt:
Schon eindimensionales Denken ist den Wirtschaftsweisen zu
hoch. Sie wollen nicht einmal Plus und Minus unterscheiden, eine
halbe Dimension muß genügen. Gerade mal die Null kommt
noch vor, mit ihr wird dann bewertet, was nicht verkauft und
bezahlt wird, z. B. was Eltern für Kinder tun.
Ganz
offensichtlich versagt dieser Expertenmaßstab auf den
Prüfständen der Logik wie der Praxis. Nicht nach dem
Geldumsatz wäre doch wirtschaftlicher Erfolg zu beurteilen,
sondern nach den Folgen für Menschen und Umwelt. Wollen wir
auch als Erwachsene weiter wachsen, müssen wir es wohl in
anderen Dimensionen versuchen. Der eigentliche Reformstau liegt
offenbar in den Grundideen über die sogenannte Wirtschaft.
Die Mehrheit darf sich nicht weiter von hochbezahlten Weisen
weismachen lassen, das Wirtschaftsleben folge unabänderlichen
Naturgesetzen. Eine einsichtige Mehrheit kann und wird die
Rahmenbedingungen der Wirtschaft ändern.
Und was ist
mit der Arbeit? Jahrhunderte lang haben wir darauf hingearbeitet,
weniger arbeiten zu müssen. Wie dumm – jetzt ist das
geschafft! Bald können wenige Prozent aller Menschen den
Güterbedarf aller anderen decken! Was sollen dann die
anderen tun? Könnten wir das bißchen Arbeit gerecht
verteilen und uns mit der gewonnenen Muße höheren
Fähigkeiten zuwenden? – Blauäugig! sagen
die Experten. Härter müssen wir arbeiten, denn
wir stehen im globalen Wettbewerb! Was das ist? Eine Art
Weltkrieg, möchte man meinen, wenn man die Heerführer
von schlagkräftigem Projektmanagement und
Durchbruchs-Strategien reden hört. Aber nein, heißt
es, das ist ein friedlicher Wettbewerb – wenn auch
kein freiwilliger. Wer beim wachsenden Tempo nicht schritthält
ist verloren.
Was ist eigentlich das Ziel des Rennens?
Wohin will alle Welt, die da Runde um Runde im globalen Stadion
läuft? Niemand kann ein Ziel nennen! Es gibt gar keins! Nur
schneller muß das Rennen werden! Wer im Wettbewerb
nicht vorne ist, geht unter, heißt es. Und doch, im
gleichen Atemzug: Wir brauchen mehr Wettbewerb! Wir wollen
also nicht nur, daß andere untergehen, nein, wir
wollen uns dafür auch noch mehr anstrengen müssen.
Könnten
wir nicht gemeinsam dafür sorgen, daß es alle leichter
haben und daß trotzdem niemand untergehen muß? Doch
wie merkwürdig: Ja, aber dafür brauchen wir doch mehr
globale Zusammenarbeit, heißt es dann. Und wie merkwürdig:
Mehr internationale Kooperation scheint noch mehr
Konkurrenz zu bedeuten. Je stärker wir aneinander gebunden
sind, um so schneller scheinen wir allesamt laufen zu müssen
– in immer exakterem Gleichschritt, weil ein einziger
Stolperer alle stürzen ließe. Ist es da
überhaupt noch denkbar sich aus den Bindungen zu lösen,
etwa die Verfolger höflich vorbeizuwinken, sich am Rande der
Aschenbahn auf den Rasen zu setzen und eine Ruhepause einzulegen?
Vielleicht auch denen zu helfen, die so weit zurückliegen,
daß bei ihnen sogar das Wachstum des ganz gewöhnlichen
Sozialproduktes noch positiv zu bewerten ist? Um was eigentlich
konkurrieren wir mit denen? Warum trifft es uns so hart, wenn es
anderswo auf der Welt aufwärts geht?
Nun ja,
die einst von uns kolonisierten wollen uns nicht mehr dienen, wir
können sie nicht mehr so recht ausbeuten, müssen also
selbst wieder mehr arbeiten. Wie gut also, daß wir es
geschafft haben, mit immer weniger Arbeit alles zu produzieren
was wir brauchen, nicht wahr? Ach nein, wie dumm – wir
brauchen doch die Arbeitsplätze! Ganz wirr wird mir im Kopf!
Wofür brauchen wir sie eigentlich? Ist es in einem so hoch
entwickelten Land noch sinnvoll, die Grundversorgung vom
Arbeitseinkommen abhängig zu machen? Immer lauter wird diese
Frage, in allen Parteien, sogar Sir Ralf Dahrendorf
stellte sie, einst führender deutscher FDP-Mann, dann
Direktor der London School of Economics (sicher keine
sozialistische Kaderschule) und heute Mitglied des britischen
Oberhauses. Er denkt, wie nun schon viele, über ein
allgemeines Bürgergeld für das Existenzminimum,
Erziehung, Alter und Krankheit nach; an Bürgern, die gerne
Arbeit übernähmen, um sich über die
Grundbedürfnisse hinaus etwas leisten zu können, werde
es dann gewiß nicht fehlen.
Aber ist das nicht
weltfremd? Arbeit wird doch nicht übernommen, sondern
gegeben – Arbeitgeber sind nötig!
Arbeitsplätze werden schließlich zur Kapitalbedienung
geschaffen! Doch nicht, damit wir essen und wohnen und Kinder
wachsen lassen können! Durch Arbeit darf das Leben letztlich
nicht leichter werden! Wo bliebe sonst die Beschleunigung des
Rennens – die Grundlage des Wachstums, in das schließlich
sämtliches Vermögen investiert ist? Nein, bedrohlicher
muß alles werden! Erst der Kampf ums nackte Überleben
mobilisiert letzte Reserven.
Aber unsere eigenen
Bedürfnisse reichen gar nicht mehr aus, um unser Kapital
zufriedenzustellen. Nicht nur, daß wir zu wenig Not leiden,
um das Letzte zu geben – diesem Mangel wäre ja durch
Sozialabbau abzuhelfen – nein, wir sind doch nun einmal
eine Exportnation, das weiß doch jeder. Wir dürfen uns
nicht so sehr um eigene Bedürfnisse kümmern
sondern können nur leben, wenn andere Nationen vieles von
uns kaufen, das sie noch nicht selbst herstellen können.
Deshalb gilt bekanntlich: Die Zukunft der Arbeit heißt
Innovation! Wir müssen neue Bedürfnisse
schaffen! Vor allem natürlich bei anderen, damit uns nicht
die Arbeit ausgeht, die wir brauchen, um das Kapital zu bedienen,
das uns dann als Lohn für diese Dienste Brot gibt –
und Spiele. Wie dumm, daß andere Völker, diese
Raubtiere – vor allem jene in den „Tigerstaaten“
– immer gleich lernen wie‘s geht! Sogar Erfindungen
machen sie nun selbst. Und die unseren übernehmen sie so
schnell, daß sie schon morgen auch das neueste selbst
erzeugen – und so billig, daß sogar wir lieber bei
ihnen kaufen. Es fehlen also Innovationen, die wirklich dauerhaft
unsere Überlegenheit erweisen. Warum also geht es nicht um
frohe, geistig wachsende Menschen in lebensfähiger Umwelt,
sondern um shareholder value, Kapitalertrag und
Wachstumsraten? Warum setzen wir uns nicht vernünftigere
Ziele? Woher das ziellose, panische Rennen? Ist es ein
Davonlaufen? Aber wovor denn? Ist eine Bestie hinter uns her, die
die Nachzügler verschlingt?
Oh nein, noch schlimmer:
Wir leben von diesem Spiel. Das Geld zum Leben kommt ja
von den Sponsoren des Rennens, und diese verdienen es vor allem
durch Wetten. Dort oben auf den Rängen des Stadions
sitzen sie, feuern uns an und wetten nicht nur auf unsere
Rundenzeiten sondern auch auf die Höhe der Wettquoten und
Einsätze, ja zunehmend sogar auf noch höhere Derivate.
Schon wird auf den Finanzmärkten fast hundertmal mehr Umsatz
und entsprechend mehr Gewinn gemacht als im Welthandel mit realen
Gütern. Kann dies den Läufern da unten aber nicht egal
sein? Ist das nicht ein Nullsummen-Spiel, bei dem die Gewinne und
Verluste der Wettenden sich schließlich ausgleichen?
Oh
nein! Die Spielregeln sorgen ja fürs rapide Wachstum der
gesamten Vermögen, und deren Eigentümer dürfen
sich damit immer mehr von den Lebensgrundlagen aller aneignen,
also immer neue Abhängigkeiten schaffen. Früher saß
man auf den Rängen in nationalen Logen beisammen und jeder
förderte sein eigenes Team in der Runde der Läufer; die
Globalisierung hat das drastisch geändert. Unsere Sponsoren
sind mittlerweile gar nicht mehr so sehr auf die
Beschleunigungswerte des eigenen Teams angewiesen wie es ihre
Anfeuerungsrufe vielleicht glauben machen sollen; kommt ein
anderes Team nach vorne, so ist dies für die Vermehrung der
Wettgelder ebenso recht. Immer schneller schwappen die Billionen
durch die höchsten Ränge des Stadions – die
globalen Finanzmärkte – täglich sind es bereits
Hunderte von Mark pro Erdbewohner. Wenn aber dabei genug für
unser täglich Brot abfallen soll, müssen wir dringend
weitere Sponsoren finden, d. h. für fremde Investoren
reizvoller werden. Immer mehr Läufer sind es ja geworden,
doch immer weniger Sponsoren auf den Rängen, schon weil
diese immer dicker werden. Wie sollen wir „Erwachsenen“
in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Belohnung der Geldgeber
mithalten, wenn doch die „Jüngsten“ im Rennen
geradezu unmenschliche Kunststückchen bieten? – Aber
warum lassen wir es zu, daß die paar Leute auf den Rängen
sich alle unsere Lebensgrundlagen aneignen, noch dazu mit
leistungslosen Einkommen aus Wettgewinnen? Wollen wir
nicht das Rennen absagen und uns daran machen, das Stadion in
einen Garten zu verwandeln? – Ach so, das geht ja nicht,
wegen der Besitzstände. Es gehört längst alles den
Sponsoren. –
Eben hatten wir Deutschen in einer
noch atavistischeren Form der Konkurrenz die gemeinsten
Verbrechen der letzten Jahrtausende organisiert und wieder einmal
alles kaputtgeschlagen; als Nebenwirkung der fünfzig Jahre
des Wiederaufbaus entstanden phantastische Vermögen, größer
als je in unserer Geschichte – wenn auch nur ein Teil der
vielen tausend Milliarden den Statistikern oder gar den
Finanzämtern bekannt ist. Nun aber heißt es: Wir
müssen sparen! Es ist kein Geld da! Ja, wo ist es denn
eigentlich?
An der Macht ist es. Und so dient es nicht
seinem eigentlichen Zweck, den Austausch von Gütern und
Dienstleistungen zu erleichtern – das lohnt sich kaum. Was
sich lohnt ist das Haben – sofern die geistige
Leistung hinzukommt, die Mehrheit im Aberglauben zu erhalten, es
sei quasi naturgesetzlich, daß man Arbeit und Lebenssinn
nur finden kann, wenn man mithilft, jenes Eigentum weiter
anwachsen zu lassen. So fallen täglich – täglich!
– zwischen ein und zwei Milliarden Mark Erträge auf
deutsche Vermögen an! Gibt es etwa eine Chance gegen die
Macht der Vermögen? – Offensichtlich gehört auch
dieser Besitzstand auf den Prüfstand! Die Freiheit des
Geldes und Eigentums ist es, die heute zunehmend alle
wesentlicheren menschlichen Freiheiten fesselt. Man nennt das
verschämt natürlichen Strukturwandel! Aber es
ist nicht ein Naturgesetz, das uns diese Fesseln anlegt; sie
liegen letztlich allein in den Köpfen, in den Knoten
lebensunfähig gewordener Leitideen, in falschen Begriffen.
Wenn die Mehrheit das begreift, wird sie die Fesseln
abstreifen.
Gegen die Macht aufstehen können freilich
nur jene, die nicht alle Kraft zum Ringen um die bloße
Existenz brauchen und die doch noch was anderes im Kopf und im
Herzen haben als die Gier, selbst zu den Mächtigen zu
gehören. Noch sind das bei uns viele, und immer mehr von
ihnen beginnen sich der Schlagworte der Anführer zu schämen,
weil deren innere Widersprüche und Machtansprüche so
schamlos offensichtlich wurden. Ist es vorstellbar, daß
genügend viele ihre Fähigkeiten nicht zum Gebrauch der
Ellbogen einsetzen wollen, sondern zum Mittragen des Ganzen? Dann
könnte sich schnell eine neue Meinungsführerschaft
ergeben, und ein Wettlauf nach lebensfähigeren
gesellschaftlichen Leitbildern könnte einsetzen. Hier
ist die Front, an der wir eine Spitzenposition einnehmen sollten!
Dazu verpflichten uns Europäer das Verursacherprinzip und
unsere freiheitliche Verfassung. Nur in den reichen Ländern
ist der Wandel ohne Gewalt möglich – allein durch die
Ausbreitung gesunden Menschenverstandes, den auch die Medien der
Mächtigen nicht ganz zum Schweigen bringen können.
Weil
es immer weniger sind, die fast alles besitzen, wird das
angeblich so unpopuläre Rütteln an Besitzständen
populär werden und hoffentlich auf dem ganz normalen Wege
demokratischer Gesetzgebung zu fundamentalem Wandel führen.
Es
ist wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Die Ideen
des Liberalismus waren einst der geschichtlichen Situation
angemessen und durchaus kleidsam. Der Neoliberalismus aber
ist der letzte Versuch, die absurd gewordene nackte Macht des
Geldes mit Ideologie zu verbrämen. Seine Verkünder
werden sich verschämt verkriechen, wenn Kinderfragen laut
werden und in Parteiprogramme und Wahlergebnisse eingehen. Und
die Professoren werden sagen, sie hätten schon immer die
Nacktheit erkannt und nur nichts sagen wollen, weil es sich nicht
ziemte. Schon höre ich die Kinderfragen; mitten in eine
Ministerrede über den notwendigen Subventionsabbau und die
Verhinderung des Sozialhilfe-Mißbrauchs platzen sie herein:
Müßtet ihr nicht vor allem aufhören, das
Kapital zu subventionieren? Macht nicht diese Sozialhilfe für
die wenigen Reichen zehnmal mehr aus als die Sozialhilfe für
die vielen Armen? – Da sind wohl jene Milliarden
gemeint, die den Besitzenden täglich als Vermögenserträge
zugeschoben werden. Nun ja, wie soll ein Kind das Eigentumsrecht
und die Berechtigung leistungsloser Einkommen aus Zins und
Zinseszins verstehen?
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Guten
Abend!
Gestern habe ich versucht, den Wirrwarr in unseren
Köpfen darzustellen. Bei dieser etwas zu satirischen
Darstellung ging es darum, anhand der aktuellen Diskussion über
den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und die
wirtschaftlichen Probleme mit Wachstum, Arbeit und Geld die
tiefen inneren Widersprüche in den modernen Leitlinien der
Menschheit erkennbar zu machen. Mit der vorgestern skizzierten
Einsicht in das Wesen der globalen Beschleunigungskrise leuchtet
die Lebensunfähigkeit der modernen Gesellschaft unmittelbar
ein. Bevor aber nicht auch ganz praktisch wahrgenommen wird, wie
absurd die eben noch gängigen Leitideen geworden sind, wird
die Mehrheit sie nicht verlassen wollen. Welche anderen,
lebensfähigeren Ideen dann vielleicht zu verfolgen wären
will ich heute in einigen Details andeuten. Wenn solche nicht
längst greifbar nahe lägen müßten wir ja
wohl in Panik geraten und im Raum der Möglichkeiten um uns
schlagen mit verschwindender Wahrscheinlichkeit, dabei in der
Fülle der Vorschläge und im Geprassel der Zufälle
doch wieder einen Weg nach „oben“ zu finden.
Lassen
Sie mich deshalb zunächst kurz an das erinnern, was ich
vorgestern über das Schöpfungsprinzip und die globale
Beschleunigungskrise sagte. Ich habe gefragt, ob im modernen
wissenschaftlichen Weltbild zu verstehen ist, wie aus dem simplen
Anfangszustand des Urknalls heraus ein Weg bis zu uns zu finden
war. In der ungeheuren Menge verschiedener Möglichkeiten ist
doch die jetzige Wirklichkeit und auch schon die der Erde vor
Milliarden Jahren derart unwahrscheinlich, daß es
naheliegt, einen zielgerichteten Willen zu vermuten. Ich habe
dagegen klarzumachen versucht, daß eben wegen der
Unermeßlichkeit des Reiches der Möglichkeiten gezielte
Planung ausgeschlossen war und ist. Selbst wenn alle Materie
unseres Universums in einem raffinierten Großcomputer
organisiert wäre und dieser so viele Weltalter lang rechnete
wie dieses Weltalter in Sekunden dauert, könnte er noch
nicht einmal die Menge der verschiedenen Beziehungsmuster
zwischen 24 Punkten durchzählen; das haben wir gesehen:
diese Anzahl ist schon größer als die Zahl der Atome
im beobachteten Weltall. Es zeigte sich: Der Aufstieg zu höherer
Komplexität ist vielmehr gerade dem Zufall zu verdanken.
Pointiert gesagt: Der Zufall ist die einzige Notwendigkeit im
Schöpfungsprozeß. Schon die physikalischen
Grundgesetze erzwingen das unablässige zufällige
Gezappel der jeweiligen Wirklichkeit. Und so muß das
Wirklichgewordene ständig benachbarte Möglichkeiten
abtasten. Es ist logische Selbstverständlichkeit, daß
dabei dort verweilt wird, wo das Verweilen wahrscheinlicher ist.
Im Prozeß des zufälligen Tastens gilt also, wie wir
sahen: Wahrscheinlich überlebt Überlebensfähigeres.
Oder noch krasser tautologisch: Wahrscheinlich geschieht
Wahrscheinlicheres. Daß dabei wir gefunden werden
konnten, heißt natürlich, daß wir im Reich der
Möglichkeiten vorhanden sind. Das „Diesseits“,
wie wir die Wirklichkeit auch nennen, ist gewissermaßen nur
eine Linie in diesem praktisch unendlich-dimensionalen
Raum der Möglichkeiten; das vordere Ende dieser Linie, die
jeweilige momentane Gegenwart, zappelt zwischen benachbarten
Gestalten herum und kommt dabei auch in die Nähe von
solchen, deren Einzugsbereich durch das weitere Zappeln nicht so
leicht wieder verlassen wird. Diese Attraktoren sind
natürlich zyklischer Natur. Sonst könnte es ja
nicht am Ende eines Schöpfungstages heißen: Siehe da,
es war sehr gut. Durchs lange Tasten und Kneten sind all die
verschiedenen Zyklen gut aufeinander eingespielt, es paßt
alles auf lebensfähige Weise zusammen. Nichts anderes
bedeutet ja das Wort Komplexität, wie wir sahen –
vom lateinischen plectere, flechten.
Wir haben aber
auch gesehen, warum es trotz dieses Eindrucks von Gelungenheit
immer wieder einen nächsten Schöpfungstag gibt. Das
Gezappel muß ja weitergehen. Zwar kann die Wirklichkeit mit
den bisher vorherrschenden Wechselwirkungen wahrscheinlich keine
komplexeren zuverlässigen Attraktoren mehr finden, aber mit
schwächeren Wechselwirkungen, mit vorsichtigerem
Tasten sind immer wieder noch raffiniertere übergeordnete
Gestalten zu erreichen, in denen die zuvor gefundenen auf
lebensfähige Weise miteinander verflochten sind. Gleich nach
dem Urknall fand unser Kosmos im allgemeinen Gezappel überall
die dauerhaften Elementarteilchen, bald auch die langlebigen
astrophysikalichen Gestalten der Milchstraßensysteme und
Sterne, in diesen die vielen möglichen stabilen Atomkerne,
in kosmischen Gas- und Staubwolken und auf der Oberfläche
junger Planeten eine Auswahl schon ziemlich komplexer chemischer
Verbindungen, wenigstens auf unserem Planeten einen raffinierten
Zyklus gegenseitiger Katalyse von Eiweißen und
Nukleinsäuren – das Leben, das dann in vier Milliarden
Jahren im gemeinsamen Zappeln mit der gesamten Erdoberfläche
die heutige Gestalt der Biosphäre findet. Gaia nennt
man sie gerne wieder mit dem griechischen Namen der
Erdgöttin.
Zwar gab es gelegentlich kosmische
Katastrophen, und dann mußten wohl oft die am höchsten
spezialisierten Gestalten verlassen werden. Aber Gaia
hatte Glück: all zu tief reichten die Katastrophen nicht,
und gerade sie sorgten wohl dafür, daß das Zappeln an
der lebensfähig gebliebenen Basis sich verstärken mußte
und damit neue Möglichkeiten erreichbar wurden – der
Morgen eines neuen Schöpfungstages sozusagen.
Soweit
also, in der Tat, alles sehr gut. Und dann – die bisher
höchste Gestalt: der Mensch mit seinem Großhirn und
seinen Händen. Und erst mit ihm, am sechsten Schöpfungstag,
zeigt sich der Teufel. Im Schöpfungsprinzip ist logisch
notwendig eine Krise eingebaut. Im evolutionären
Auswahlprozeß haben die Fähigkeiten zu schnellerer
Innovation und zu großräumigerer Organisation einen
selektiven Vorteil: In einem räumlich hinreichend isolierten
Bereich wie auf einem Planeten gibt es natürlich eine nicht
überschreitbare Grenze der Größe, die Globalität.
Aber auch die Innovationsgeschwindigkeit hat eine kritische
Grenze: Wenn die führenden Gestalten schnell und global sich
selbst und ihre Einbettung im Raum der Möglichkeiten
verlassen, bevor sie auch nur einmal den eigenen Bewährungszyklus
vollendet haben, dann ist nicht mehr der Aufstieg zu höherer
Komplexität wahrscheinlich sondern der Absturz ins Chaos.
Weil aber Größeres das Kleine verdrängt und
Schnelleres das Langsamere müssen schließlich
beide kritischen Grenzen erreicht werden. Diese systemtheoretisch
unausweichliche Krise nannte ich die globale
Beschleunigungskrise. Unsere Generation stellt ihren
Höhepunkt dar – merkwürdiger Zufall, daß er
ungefähr mit unserer Jahrtausendwende zusammenfällt.
Ich
glaube, wir haben eine gute Chance den Übergang zum siebten
Tag zu schaffen. Die Vorarbeit einiger Jahrtausende der
Kulturentwicklung hat genügend lebensfähige Ideen
sichtbar werden lassen; daß sie vor Erreichen des
Höhepunktes der Krise nicht für die Weltgesellschaft
erreichbar waren, liegt in der Natur der Krise, schon wegen der
selektiven Vorteile des Großen und Schnellen. Aber das
Voranstürmen zum Höhepunkt war nur durch höchste
menschliche Bewußtseinsleistungen organisierbar, durch
Wissenschaft und Technik, nicht etwa durch die biologischen
Gegebenheiten und die mit ihnen ererbten Verhaltensweisen. Zwar
werden diese psychologischen Gegebenheiten in der Organisation
des zunächst militärischen, dann
wissenschaftlich-wirtschaftlichen Wettlaufs zum Abgrund benutzt,
vor allem durch Nutzung der sogenannten Medienmacht. Anders
könnte ja die Mehrheit nicht mitgezogen werden. Aber die
Führung liegt eben letztlich doch immer im Denken. Wir
müssen uns das immer wieder sagen: Erst mit dem
wissenschaftlich-technischen Denken konnte die globale
Beschleunigungskrise manifest werden. Auf dem gleichen
Bewußtseinsniveau läßt sich das Wesen der Krise
verstehen. Und aus dieser Einsicht folgt unmittelbar, was zu tun
bleibt: Die Menschheit muß nun aus der Einsicht ins Wesen
der immer sichtbarer werdenden Krise eine Verfassung finden, in
der die Organisation im Großen und die schnellere
technische Innovation eben keinen selektiven Vorteil
haben.
Natürlich ist nicht nur das Schlechte, das
Bedrohliche am jetzigen Zustand der Gesellschaft diesen
selektiven Vorteilen zuzuschreiben, sondern auch Gutes, das
Hoffnung macht. Am wichtigsten: Nur wegen der schnellen
weltweiten Kommunikation ist überhaupt vorstellbar, daß
innerhalb eines Menschenalters die Einsicht ins Wesen der Krise
weltweit verbreitet wird und das Denken der Mehrheit bestimmt.
Und nur wegen des Erreichens der Globalisierung ist es ja möglich
geworden an einer „Weltverfassung“ praktisch zu
arbeiten. Es geht ja vor allem um die sogenannte Eroberung von
Märkten. Vielleicht ist es mir gestern gelungen, die
Absurdität dieses zunächst in den führenden
Ländern und dann weltweit organisierten Wettlaufs um die
Aneignung von Lebensgrundlagen anderer deutlich zu machen. Heute
muß ich nun noch skizzieren, wie wir denn zuhause und
schließlich auch weltweit aus diesem Wettlauf aussteigen
können. Dabei ist wieder die Frage hilfreich, die der
Bundespräsident in den Mittelpunkt gesellschaftlicher
Debatten gerückt sehen möchte: Was wollen wir
eigentlich?
Nach einigen Jahrtausenden des Suchens
nach Antwort können wir wohl sagen: Wir wollen nicht nur
selbst glücklich sein, lieben, uns freuen – an
der Schönheit der Welt und an fröhlichen Kindern, nein,
wir wollen dies für alle Menschen. Was heißt
denn jenes Alle Menschen sind vor Gott gleich? Jeder
Mensch soll frei sein, sich an der Front seiner inneren
Möglichkeiten zu entfalten; kein anderer soll die Macht
haben, ihn dabei zu behindern.
Sicherlich, in den
Jahrmillionen der Menschwerdung und in Jahrtausenden der
Kulturentwicklung konnte das nicht so sein. Immer wieder mußte
um biologische und soziale Lebensgrundlagen mit anderen gerungen
werden. Aber es ist ein Irrtum, dies für naturgesetzlich
notwendig zu halten, wie es die meisten
Gesellschaftswissenschaftler und vor allem die Ökonomen noch
immer tun. Oft berufen sie sich dabei auf Darwin und den
unvermeidlichen Kampf ums Dasein. Aber das ist ein simples
Mißverständnis des Evolutionsprinzips. Natürlich
konkurrieren die verschiedenen Fasern der Wirklichkeit
miteinander um bessere Annäherung an die jeweilgen
attraktiven Leitideen. Aber die Front dieser Konkurrenz wandert
von Tag zu Tag in neue Reiche der Ideenwelt. Wir haben doch
gesehen: Der Aufstieg gelingt nur durch Beschränkung des
Gezappels in den gelungenen Gestalten, also durch die
Beschränkung auf schwächere Wechselwirkungen.
Zum Beispiel findet beim Tasten nach chemischen Möglichkeiten
auf der frühen Erde die wesentliche Konkurrenz nicht
im Einzugsbereich der gelungenen Gestalten von Elementarteilchen
und Atomen statt, sondern durch deren Wechselwirkungen mit viel
schwächeren Kräften. Und im Aufstieg des Lebendigen
wurde nicht mehr um verschiedene genetische Codes oder
verschiedene Grundprinzipien lebender Zellen konkurriert. Es war
ja schon alles „sehr gut“. Und mit schwächeren
Wechselwirkungen ging es weiter „aufwärts“.
Das
Ringen der Menschen um ihre Lebensgrundlagen gehört noch
immer zum sechsten Tag. Der Übergang zum siebten geschieht
nicht mit einem Ruck – Verzeihung, Herr Präsident! –
sondern in einer Epoche der Dämmerung. Wenn wir nun
einsehen, daß dank der Arbeit des sechsten Tages bald
wenige Prozent der Menschen die lebensnotwendigen Güter für
alle anderen produzieren können, dann dämmert uns, daß
es Zeit ist, Konkurrenz um die Lebensgrundlagen verfassungsmäßig
zu beenden. Wir haben ja gesehen: Sogar Liberalen dämmert
das schon. Als biologisches Wesen konnte der Mensch das
nicht. Aber mit Hilfe des bewußten Denkens kann er es
organisieren. Nur er kann es! Natürlich, wir erkennen
ja nun den ganzen Schöpfungsprozeß als
Selbstorganisation. Und nun geht es um die
Selbstorganisation der menschlichen Freiheit.
Versuchen
wir also, uns eine Gesellschaft vorzustellen, in der die Menschen
nicht um ihre materiellen und gesellschaftlichen
Lebensgrundlagen konkurrieren müssen. Offenbar müßte
die Wirtschaftsleistung gerechter verteilt werden ohne daß
dadurch die Freiheit und der Anreiz zu vernünftigem
wirtschaftlichen Handeln verloren ginge. Manche sagen das ginge
ja nicht, das habe ja der Untergang des sogenannten Sozialismus
eben erst gezeigt. Aber wenn doch der sogenannte Kapitalismus
ebenfalls unterzugehen droht und dies gar noch den Untergang der
Biosphäre heraufbeschwört, lohnt es sich wohl doch,
nach anderen Möglichkeiten Ausschau zu halten – es muß
doch wohl mehr als zwei geben im unermeßlichen Reich der
Möglichkeiten! – Lassen Sie mich rasch ein paar
Vorschläge beisteuern.
Apropos Steuern! Die
neue Gesellschaft braucht ja offensichtlich Geld, um die
wichtigsten Gemeinschaftsaufgaben zu erfüllen. Die
wesentlichen Bedürfnisse aller Kinder und Alten und Kranken
sollen solidarisch finanziert werden, Und damit ist nicht
nur das tägliche Brot und ein Dach überm Kopf gemeint.
Wahrscheinlich wird sogar jedermann Anspruch auf ein Bürgergeld
haben, das sein Existenzminimum deckt. Stellen wir uns das in
Zahlen vor: Das gesamte jährliche Steueraufkommen für
Bund, Länder, Gemeinden und Europa beträgt in unserem
Land zur Zeit grob 800 Milliarden Mark. Wenn jeder Einwohner
monatlich 1000 Mark als Bürgergeld bekäme, so läge
die Jahressumme hierfür bereits etwas über dieser
Steuerleistung, nämlich bei etwa 1000 Milliarden, einer
Billion. Daneben erbringt freilich die Gesellschaft noch
erhebliche andere Leistungen wie die Ausgaben für
Rentenversicherung, Kranken- und Arbeitslosenversicherung und
ähnliches. Auch diese Leistungen erreichen insgesamt schon
fast die Größenordnung der gesamten Steuern. Und ein
beträchtlicher Teil der Steuern dient ja heute der
Subventionierung spezieller Teile der Gesellschaft. Bei der
Zahlung eines Bürgergeldes würden die meisten dieser
Subventionen wegfallen. Dennoch sieht es doch nun so aus, als
könnten wir uns ein Bürgergeld für alle –
zudem noch in erhöhtem Maße für Erziehung und
Ausbildung, für Alter und Krankheit – nicht
leisten.
Allerdings haben wir bei dieser Abschätzung
etwas ganz wesentliches vergessen. Gestern war davon die Rede: es
sind die heutigen leistungslosen Einkommen. Ich meine
nicht die Sozialhilfe – die wird ja aus Steuern bezahlt,
etwa 50 Milliarden jährlich – ich meine die
Subventionierung des Kapitals, was ich die „Sozialhilfe
für die Reichen“ nannte. Diese erreicht ebenfalls die
Größenordnung des gesamten Steueraufkommens. Die
genauen Zahlen sind gar nicht so leicht zu ermitteln – man
redet nicht gern davon; es ist ja auch peinlich, sich als
„Sozialhilfe-Empfänger“ zu outen. Die
gesamte Leistung für die sogenannte Kapitalbedienung liegt
aber irgendwo zwischen täglich ein und zwei Milliarden Mark,
wie ich sagte, täglich, wie gesagt.
Aber
bleiben wir zunächst noch bei den Steuern. Heute sind lauter
wünschenswerte Dinge durch Steuern belastet: das Einkommen
aus Arbeit, der Kauf des Essens und der Kleidung für mich
und meine Kinder, die Reparatur meiner Waschmaschine. Wie
merkwürdig! Sollte man nicht lieber nur das besteuern, was
schädlich ist? Also nicht etwas die wirkliche
Wertschöpfung, sondern vielmehr die Zerstörung von
Werten? Minderwertsteuer statt Mehrwertsteuer habe ich das
genannt. Nun ist das ja schon der Kern der Ökosteuer-Diskussion.
Warum formiert sich da so wütender Widerstand? Die meisten
Bürger lassen sich offenbar einreden, mit diesem Konzept
würden sie verlieren. Schauen wir also wieder eine Zahl an.
Wenigstens eine Aktivität der gesamten Gesellschaft
ist ja mittlerweile ganz allgemein als schädlich erkannt:
die Verbrennung fossiler Energieträger – Kohle, Öl
und Gas. Jeder Deutsche setzt heute täglich die Hälfte
seines eigenen Körpergewichtes an Kohlendioxidgas in die
Atmosphäre frei durch seine Teilnahme an der sogenannten
Zivilisation. Beim Amerikaner ist es sogar das ganze
Körpergewicht. Die Folgen haben wir gesehen, z. B. die
drohende Klimaveränderung. Also wäre es wohl sinnvoll,
die Verschwendung an Energie zurückzudrängen und
zugleich die Alternativen zu entwickeln. Stellen wir uns also
einmal vor, wir wollten alle heutigen Steuern, jene
jährlich 800 Milliarden Mark, abschaffen und sie allein
durch eine Steuer auf Energie ersetzen – natürlich
nicht über Nacht, aber in einem vernünftigen
Übergangszeitraum. Wie hoch wäre diese Steuer, die alle
anderen Steuern ersetzen würde? Das gesamte deutsche
Steueraufkommen ergäbe sich, wenn wir auf jede
Kilowattstunde Primärenergie 22 Pfennig legten; eine
Kilowattstunde elektrischen Stroms enthält drei
Kilowattstunden Primärenergie, also bedeutete das eine
Steuer von etwa 65 Pfennig auf die elektrische Kilowattstunde.
Und ein Liter Öl enthält ungefähr zehn oder elf
Kilowattstunden Primärenergie, also: der Liter Öl würde
besteuert mit ungefähr 2,50 Mark. So schrecklich klingt das
gar nicht, nicht wahr, wenn wir uns vorstellen, daß alle
anderen Steuern fort sind! Mir scheint fast, wir könnten das
Steueraufkommen zur Eindämmung des wahnsinnigen Verhaltens
beim Energieverbrauch sogar noch höher ansetzen.
Natürlich
würde der Energieverbrauch dann rasch abnehmen, und man
müßte allmählich den Steuersatz pro
Kilowattstunde anwachsen lassen. Dann wäre in einigen
Jahrzehnten die fossile Verbrennung überhaupt kein Problem
mehr, weil der gesamte Energieverbrauch aus unschädlicher
Sonnenenergie käme und die Kernenergie längst
aufgegeben wäre, und woher sollten dann noch Steuern kommen?
Aber die Verbrennung fossiler Energieträger ist nicht etwa
der einzige Zerstörungsprozeß, dem wir uns hingeben.
Es gibt ja so viele andere schädliche Produkte und Prozesse.
Denken Sie nur an die Vergeudung von Wasser! Warum könnten
wir nicht die Entnahme von Frischwasser besteuern? Die Entnahme
von Rohstoffen aus der Erde, die dann fein zerstäubt in die
Biosphäre freigesetzt werden, wie z. B. die Schwermetalle?
Oder die neu produzierten Moleküle – denken Sie an die
Chlorchemie – und die vielen anderen Gifte? Oder gar die
künstlichen Organismen, die nun geplant sind? Da wären
vernünftige Steuerquellen! Zivilisation erzeugt immer
Entropie, wie wir das nennen. Also sollten wir es vielleicht gar
nicht Minderwertsteuer nennen sondern
Entropiesteuer.
Nun, wer sollte so etwas
organisieren wenn nicht wir alle gemeinsam, also der Staat? Es
wird uns immer gesagt, wir bräuchten weniger Staat.
Ja, aber doch nur dort, wo er die Freiheit zu Gutem und
Vernünftigem beschneidet. Dort, wo er das insgesamt
Schädliche behindern kann, brauchen wir mehr
Staat!
Und deshalb ist auch noch eine weitere Steuer
notwendig. Wir haben doch gesehen, daß wir die Kräfte,
die in die globale Beschleunigungskrise treiben, an der Wurzel
behindern sollten. Wir möchten doch den selektiven Vorteil
des Großen und Schnellen beseitigen. Kann man
den auch weg-steuern? Können wir über eine
Größenbegrenzungssteuer nachdenken? Ist es
vorstellbar, daß z. B. das Eigentum an Lebensgrundlagen
beschränkt wird, durch Steuern, so daß es sich
nicht lohnt, sich die Lebensgrundlagen anderer anzueignen, sehr
wohl aber die eigenen? Dazu kommt natürlich noch, daß
das gesamte Geld- und Eigentumsrecht geändert werden muß,
daß dies einer Zweidrittel-Mehrheit bedarf – wir
können das also nicht in wenigen Legislaturperioden
erwarten, daß wir durch Gesetze solche neuen Regelungen
einführen. Aber wir müssen doch darüber
nachdenken!
Zum Beispiel auch über eine neue
Geldordnung, in der eben nicht das Haben von Geld sich
lohnt, in der nicht bei jeder Tätigkeit, die ein Mensch für
einen anderen ausführt, bei einem völlig unbeteiligten
ein Konto wächst. Über diese Dinge ist natürlich
schon lange nachgedacht worden – seit Moses! Aber diese
Diskussion ist heute aus der wissenschaftlichen Diskussion völlig
verdrängt, weil dort eben, wie gesagt, die ideologische
Vorstellung herrscht, das Wachstum von Vermögen sei
naturgesetzlich notwendig. Ich glaube, wenn wir die
Leistungen einer modernen Gesellschaft gerecht verteilen, dann
entsteht sogar eine ganz ähnliche Art von wirtschaftlicher
Freiheit, wie sie heute von den Wirtschaftsliberalen gefordert
wird, nur eben im Kleinen. Wenn die große
Vermögensbildung behindert ist und die kleine
gefördert – die muß dann gar nicht gefördert
werden, die entsteht dann von selbst – dann entsteht die
Vielfalt von kleinen und mittleren Unternehmen, die es
wahrscheinlich macht, daß Besseres gefunden wird.
Der
Mensch ist ungeduldig. Auch die weise gewordenen schweifen doch
gelegentlich mit ihren Gedanken und Wünschen in Welten, die
sie nichts angehen. Der Bereich der geistigen Welt, der mit der
Entwicklung des Menschen und seiner Kulturen zugänglich
wurde, ist ja weit größer als die Reiche aller früher
gefundenen Gestalten einschließlich des Reichtums der
Biosphäre. Und ein Mensch kann in Träumen und Gedanken
– und dann natürlich auch in Büchern –
schnell vorankommen. Das Erreichen und Überschreiten der
kritischen Innovationsgeschwindigkeit an dieser Front im Raum der
Möglichkeiten gehört ja sozusagen zur Natur des
Menschen. Nach der Wiedervereinigung von Geist und Materie
im Weltbild, das ich in diesen Vorträgen skizziert habe, ist
ja auch das Reich menschlichen Seelenlebens und bewußten
Denkens, die Noosphäre, ein Teil der Natur. Nur an
dieser neuen Front aber ist rasche Innovation ohne Gefahr fürs
Ganze möglich und selbst fürs Individuum bekanntlich
nicht mit weit überkritischer Geschwindigkeit; hier
nennt man das Ergebnis übertriebener Geschwindigkeit
Irresein. Natürlich darf der Mensch auch vom achten
Schöpfungstag träumen oder über ihn spekulieren,
und über alle möglichen weiteren bis in unendliche
Zeit, oder bis zum Weltende vielleicht, zum Ende der Zeit und der
Wirklichkeit, da ist ein weites Feld für Science-fiction-
und Social-fiction-Autoren, sogar für esoterisch
angehauchte Physiker, und natürlich für Theologen. Aber
über die gegenwärtige Krise kann uns das gedankliche
Tasten an Möglichkeiten zukünftiger Schöpfungstage
nicht hinweghelfen. Die logische Struktur der globalen
Beschleunigungskrise setzt ja, wie wir sahen, selbst die
Zeitskala bis zum Aufprall im Chaos. Die Entscheidung, ob wir
untergehen, ob also die Front der irdischen Entwicklung nun
abstürzt und dabei sogar noch die oberen Stockwerke der
Biosphäre mit einreißt, oder ob die Selbstorganisation
der menschlichen Freiheit gelingt und am Ende des siebten Tages
wiederum stehen kann: Siehe, es war alles gut –
diese Entscheidung wird im Denken und in der politischen Arbeit
der heute lebenden Menschen getroffen.
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