Guten Abend!
Gestern habe ich versucht, ein Weltbild zu skizzieren, in dem wir verstehen können, unter welchen Bedingungen die Schöpfung „aufwärts“ führt, zu „gelungenen“ Gestalten, die zusammenpassen. Und wir sahen dabei, daß in dieses Prinzip der Schöpfung, das so lange aufwärts führte, ein Problem eingebaut ist, eine logisch unvermeidliche Krise, die ich die
globale Beschleunigungskrise
nannte. Heute möchte ich nun zunächst zeigen – anhand von ganz aktuellen Beispielen aus der politischen Diskussion – wie das Rennen zum Höhepunkt der globalen Beschleunigungskrise im einzelnen organisiert ist. Morgen werden wir dann fragen, ob angesichts der systemtheoretischen Logik überhaupt Rettung möglich ist, und vor allem wollen wir dann die Annäherung an lebensfähigere Ideen versuchen. – Zunächst also zur Organisation der Krise.
Die liegt natürlich darin, daß die zuletzt erfolgreichsten Ideen weiterhin naheliegen und attraktiv sind. Das sind: die
wirtschaftliche Wertschöpfung
und die
wissenschaftlich-technische Innovation. Ändern soll sich nur, daß beides immer schneller
und
globaler
vonstatten gehen soll. Und diese Macht der alten Attraktoren ist durch mächtige gesellschaftliche Institutionen gesichert. Dennoch können wir logisch einsehen, daß beide Ideen zusammenbrechen müssen. Das hat natürlich damit zu tun, daß beide keine vernünftigen Wertvorstellungen haben. In der Wirtschaft gilt etwas als wertvoll, wenn dafür bezahlt wird, und die Wissenschaft definiert sich, wie wir sahen, sogar ausdrücklich als wertfrei. Beide berufen sich auf die Demokratie: wenn die Mehrheit etwas will, hat sie recht! Was sie will, ist prinzipiell gut. Manche Anführer glauben sogar, sie haben deshalb recht, weil eine Mehrheit sie gewählt hat. Unfug! In einer globalen Instabilität hat logischerweise die Mehrheit
unrecht!
Das spricht nicht gegen die Idee der Demokratie, aber wohl für Fortschritte bei der „Erziehung des Menschengeschlechts“, wie das einmal genannt wurde. Wir werden morgen sogar sehen, daß gerade die weitere Demokratisierung, die Fortsetzung der Emanzipation von allerlei Mächten, die Rettung wahrscheinlich machen wird. Es sind also nicht etwa alle attraktiven Ideen der Moderne nicht mehr lebensfähig – ganz im Gegenteil! – nur die übergeordneten Leitideen sind falsch geworden. Sonst ist fast alles immer noch
sehr gut. Sonst wäre ja die Lage hoffnungslos – in der Eile!
Zunächst zur Wissenschaft. – Wir haben heute Experten für lauter enge Bereiche, weil das Wissen so viel geworden ist, daß ein Einzelner es gar nicht überblicken kann. Wir haben aber keine Experten fürs Zusammenpassen
– das ist auch gar nicht möglich. Komplexität geht bei der Analyse verloren. Natürlich werden die Experten von denen benutzt, die Macht haben und behalten wollen. Das entspricht dem alten Wort
divide et impera!
– teile und herrsche! Wir wissen ja, daß unter den Leistungen von Wissenschaft und Technik der letzten hundert Jahre nun sogar das Klima der Erde umzukippen droht. Ein paar Spurengase in die Atmosphäre, und alles ändert sich – nun ja, denken wir uns nur, wir hätten 24 neue Stoffe in der Atmosphäre: wer könnte denn vorhersagen, was zwischen denen für verschiedene Beziehungen möglich sind? Denken Sie an das Beispiel von gestern abend! Das läßt sich nicht vorhersagen, auch nicht mit den größten Computern zuverlässig ausrechnen. Oder die Ozonschicht, die wir innerhalb weniger Jahrzehnte schon beinahe abgebaut haben: geschaffen wurde sie vom Lebendigen im Laufe von hunderten von Millionen Jahren, und nur durch sie konnte das Leben „höher“ aufsteigen, weil die ultraviolette Strahlung der Sonne dadurch zurückgehalten wurde, die höhere Komplexität verhindert hätte. Das heißt: das Leben hat sich selbst die Bedingungen geschaffen, unter denen es höher klettern konnte. Die Zerstörung des Strahlungshaushalts der Erde ist eine
Wahnsinnshandlung!
Es finden ja nun auch ständig Konferenzen darüber statt. Aber Beschlüsse lassen sich offensichtlich immer noch nicht fassen. Oder denken wir ans Artensterben – schon erwähnt: innerhalb einer Generation reduzieren wir die Biosphäre so etwa auf die Hälfte! Oder die Chemie: stündlich erfinden wir ungefähr ein neues Molekül, grad in dem Tempo, in dem die Arten aussterben, beinah. Und die neuen Moleküle hat es vielleicht im ganzen Universum zuvor nicht gegeben – die Menge der Möglichkeiten ist unerschöpflich! Aber wir wollen das Neue möglichst auch gleich Millionen-Tonnen-weise verkaufen und freisetzen! Kann das gutgehen? Die Wahrscheinlichkeit ist offenbar gering. Oder, was wir schon erwähnt haben: der Genpool aller Arten, in den nun die Forscher hineinlangen, um zu unserem Segen und Profit neue Lebensformen zu schaffen. Die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen, daß das gutgehen kann, beim besten Willen! Aber wer das sagt, gilt als
Panikmacher. Wir wissen doch, wenn eine Katastrophe eintritt dann heiß es: „Das war mit dem damaligen Stand von Wissenschaft und Technik nicht vorhersehbar. Also ist niemand schuld.“
Oder denken wir an eine andere moderne Folge von Technik und Wissenschaft: die ungeheure Zunahme der Kommunikation. Kommunikation mündiger Bürger sollte doch etwas gutes sein! Aber man vergißt: Kommunikation braucht Gemeinsamkeit, Kommunität, und die wächst ganz langsam. Man kann nicht mit allen Menschen auf der Erde vernünftig kommunizieren – dabei ergibt sich Chaos. Man braucht für wirkliche Kommunikation Vertrauen, und Vertrauen ist wohl nur hierarchisch organisierbar; eine Hierarchie des Vertrauens aufbauen, das geht nicht mit Massenmedien. Sind also auch andere Formen der Demokratie notwendig? Sollten wir nicht auch darüber wissenschaftlich, also systemtheoretisch nachdenken, ob die Organisation der Demokratie sich verbessern läßt? Die Vorstellung des mündigen Bürgers, der aus 99 Kanälen sich das richtige herauspickt und damit die Welt verbessern kann, ist einfach kindisch.
Besonders absurd ist das natürlich in der Ökonomie – falls wir diese unter die Wissenschaften zählen dürfen. Schon vor der ersten Seite ihrer Lehrbücher wird meist stillschweigend vorausgesetzt, was herauskommen soll. Dort spielt eine große Rolle der homo oeconomicus, der alles sofort überblickt und unverzüglich zum langfristig größten Vorteil handelt; und wenn viele das so tun, dann sorgt die Unsichtbare Hand
dafür, daß es auch im Ganzen gutgeht. Diese Vorstellung enthält überhaupt nicht das Problem der Zeit, die gebraucht wird um abzuwägen und vernünftige Entscheidungen zu treffen. Das ist auch einer der Gründe, warum die Wirtschaftstheorien so wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben. Schon die Grundbegriffe enthalten fatale innere Widersprüche. Das wird auch deutlich in den pädagogischen Reden des Bundespräsidenten, der uns für die globale Konkurrenz fitter machen wollte. Erinnern Sie sich, wie beeindruckt er seinerzeit aus Asien zurückkam? Die Wolkenkratzer und die Wachstumsraten! Da sollten wir uns ein Beispiel nehmen – an Indonesien und Malaysia! Aber ist das nicht als tadelte ich meinen Achtzehnjährigen: „Wieder bist du kaum gewachsen dieses Jahr! Nimm dir doch ein Beispiel an deiner kleinen Schwester!“ Wie kindisch, sich beim Erwachsenwerden der Wachstumsschwäche zu schämen! Das weiß doch schon der Jugendliche, daß nun andere Aufgaben bevorstehen! Offensichtlich ist in den führenden Industrienationen jetzt etwas ganz anderes fällig als sogenanntes „Wirtschaftswachstum“! Und das zeigen nicht nur die ökologischen und gesellschaftlichen Zerstörungsprozesse, für die ja viele kein Gespür haben, nein, auch auf der Oberfläche, im Wirtschaftsleben, meldet sich nun eben dieses garstige Jucken, und alle verordneten Salben scheinen es nur schlimmer zu machen. – Daß etwas nicht zusammenpaßt merkt jeder. Offenbar muß alles anders werden. Und immer mehr Anführer aus Politik und Wirtschaft heben Stimme und Zeigefinger oder die Peitsche, um Aufbruchsstimmung zu verbreiten.
Ein Ruck muß durchs Land gehen! Die Welt ist im Aufbruch und wird nicht auf Deutschland warten!
– Aber
wohin
es gehen soll, bleibt vage.
Das Volk soll sich aus seiner Depression befreien und die lähmende Wachstumsschwäche überwinden! Alle Besitzstände müssen auf den Prüfstand! Eine Vision brauchen wir, eine Gesellschaft der Selbständigkeit, in der Freiheit der zentrale Wert ist! Wenn wir alle Fesseln abstreifen, müssen wir es schaffen wieder eine Spitzenposition einzunehmen und eine Welle neuen Wachstums auszulösen, das neue Arbeitsplätze schafft!
Er hat viel Lob bekommen für diese Worte. Warum erfaßt uns nicht endlich jene Dynamik, die Roman Herzog damals in Asien so faszinierte? Vorwärts endlich
– ins vorige Jahrhundert! Aber Sie wissen, inzwischen ist ja in Asien einiges geschehen.
Was muß heute eigentlich wachsen, damit es uns besser geht? Die Weisen sagen noch immer: das reale Sozialprodukt, die sogenannte Wertschöpfung. Was sind das für Werte, die wir da schaffen? Offenbar dient die wirtschaftliche Aktivität in entwickelten Ländern überwiegend
nicht mehr
dem Wohl der Bürger. Übrigens predigen das auch die Experten schon lange, ohne freilich zu merken, was sie da sagen: Wenn das reale Bruttosozialprodukt nicht wächst, geht es uns schlechter. Mit anderen Worten: Wenn wir heuer das gleiche tun wie voriges Jahr, so geht‘s begab. Merkwürdig – wenn wir doch dauernd Werte schaffen! Das muß doch wohl bedeuten (wenn uns nicht ständig von außen Gewalt angetan wird): Unser eigenes Tun richtet insgesamt mehr Schaden als Nutzen an! Tun wir noch mehr vom Gleichen, um das Sozialprodukt wachsen zu lassen, wird‘s also wohl noch schneller bergab gehen, nicht wahr?
Das ist kein scheinbares Paradox, sondern ein echter innerer Widerspruch unserer Leitideen. Im Bruttosozialprodukt wird ja einfach alles, was Geld gekostet hat, aufaddiert – es gibt gar kein negatives Tun! Noch die schlimmste Zerstörung trägt positiv bei! Das heißt: Schon
eindimensionales
Denken ist den Wirtschaftsweisen zu hoch. Sie wollen nicht einmal Plus und Minus unterscheiden, eine halbe Dimension muß genügen. Gerade mal die Null kommt noch vor, mit ihr wird dann bewertet, was nicht verkauft und bezahlt wird, z. B. was Eltern für Kinder tun.
Ganz offensichtlich versagt dieser Expertenmaßstab auf den Prüfständen der Logik wie der Praxis. Nicht nach dem Geldumsatz wäre doch wirtschaftlicher Erfolg zu beurteilen, sondern nach den Folgen für Menschen und Umwelt. Wollen wir auch als Erwachsene weiter wachsen, müssen wir es wohl in anderen Dimensionen versuchen. Der eigentliche Reformstau liegt offenbar in den Grundideen über die sogenannte Wirtschaft. Die Mehrheit darf sich nicht weiter von hochbezahlten Weisen weismachen lassen, das Wirtschaftsleben folge unabänderlichen Naturgesetzen. Eine einsichtige Mehrheit kann und wird die Rahmenbedingungen der Wirtschaft ändern.
Und was ist mit der Arbeit? Jahrhunderte lang haben wir darauf hingearbeitet, weniger arbeiten zu müssen. Wie dumm – jetzt ist das geschafft! Bald können wenige Prozent aller Menschen den Güterbedarf aller anderen decken! Was sollen dann die anderen tun? Könnten wir das bißchen Arbeit gerecht verteilen und uns mit der gewonnenen Muße höheren Fähigkeiten zuwenden? –
Blauäugig!
sagen die Experten.
Härter
müssen wir arbeiten, denn wir stehen im globalen Wettbewerb! Was das ist? Eine Art Weltkrieg, möchte man meinen, wenn man die Heerführer von
schlagkräftigem Projektmanagement und Durchbruchs-Strategien
reden hört. Aber nein, heißt es, das ist ein
friedlicher
Wettbewerb – wenn auch kein freiwilliger. Wer beim wachsenden Tempo nicht schritthält ist verloren.
Was ist eigentlich das Ziel des Rennens? Wohin will alle Welt, die da Runde um Runde im globalen Stadion läuft? Niemand kann ein Ziel nennen! Es gibt gar keins! Nur
schneller
muß das Rennen werden! Wer im Wettbewerb nicht vorne ist, geht unter, heißt es. Und doch, im gleichen Atemzug: Wir brauchen
mehr
Wettbewerb! Wir wollen also nicht nur, daß
andere
untergehen, nein, wir wollen uns dafür auch noch mehr anstrengen müssen.
Könnten wir nicht gemeinsam dafür sorgen, daß es alle leichter haben und daß trotzdem niemand untergehen muß? Doch wie merkwürdig: Ja, aber dafür brauchen wir doch mehr globale Zusammenarbeit, heißt es dann. Und wie merkwürdig:
Mehr
internationale Kooperation scheint
noch mehr
Konkurrenz zu bedeuten. Je stärker wir aneinander gebunden sind, um so schneller scheinen wir allesamt laufen zu müssen – in immer exakterem Gleichschritt, weil ein einziger Stolperer alle stürzen ließe. Ist es da überhaupt noch denkbar sich aus den Bindungen zu lösen, etwa die Verfolger höflich vorbeizuwinken, sich am Rande der Aschenbahn auf den Rasen zu setzen und eine Ruhepause einzulegen? Vielleicht auch denen zu helfen, die so weit zurückliegen, daß bei ihnen sogar das Wachstum des ganz gewöhnlichen Sozialproduktes noch positiv zu bewerten ist? Um was eigentlich konkurrieren wir mit denen? Warum trifft es uns so hart, wenn es anderswo auf der Welt aufwärts geht?
Nun ja, die einst von uns kolonisierten wollen uns nicht mehr dienen, wir können sie nicht mehr so recht ausbeuten, müssen also selbst wieder mehr arbeiten. Wie gut also, daß wir es geschafft haben, mit immer weniger Arbeit alles zu produzieren was wir brauchen, nicht wahr? Ach nein, wie dumm – wir brauchen doch die Arbeitsplätze! Ganz wirr wird mir im Kopf! Wofür brauchen wir sie eigentlich? Ist es in einem so hoch entwickelten Land noch sinnvoll, die Grundversorgung vom Arbeitseinkommen abhängig zu machen? Immer lauter wird diese Frage, in allen Parteien, sogar
Sir Ralf Dahrendorf
stellte sie, einst führender deutscher FDP-Mann, dann Direktor der
London School of Economics
(sicher keine sozialistische Kaderschule) und heute Mitglied des britischen Oberhauses. Er denkt, wie nun schon viele, über ein allgemeines Bürgergeld für das Existenzminimum, Erziehung, Alter und Krankheit nach; an Bürgern, die gerne Arbeit übernähmen, um sich über die Grundbedürfnisse hinaus etwas leisten zu können, werde es dann gewiß nicht fehlen.
Aber ist das nicht weltfremd? Arbeit wird doch nicht
übernommen, sondern gegeben
– Arbeitgeber sind nötig! Arbeitsplätze werden schließlich zur Kapitalbedienung geschaffen! Doch nicht, damit wir essen und wohnen und Kinder wachsen lassen können! Durch Arbeit darf das Leben letztlich nicht leichter werden! Wo bliebe sonst die Beschleunigung des Rennens – die Grundlage des Wachstums, in das schließlich sämtliches Vermögen investiert ist? Nein,
bedrohlicher
muß alles werden! Erst der Kampf ums nackte Überleben mobilisiert letzte Reserven.
Aber unsere eigenen Bedürfnisse reichen gar nicht mehr aus, um unser Kapital zufriedenzustellen. Nicht nur, daß wir zu wenig Not leiden, um das Letzte zu geben – diesem Mangel wäre ja durch Sozialabbau abzuhelfen – nein, wir sind doch nun einmal eine Exportnation, das weiß doch jeder. Wir dürfen uns nicht so sehr um
eigene
Bedürfnisse kümmern sondern können nur leben, wenn andere Nationen vieles von uns kaufen, das sie noch nicht selbst herstellen können. Deshalb gilt bekanntlich: Die Zukunft der Arbeit heißt
Innovation!
Wir müssen
neue
Bedürfnisse schaffen! Vor allem natürlich bei anderen, damit uns nicht die Arbeit ausgeht, die wir brauchen, um das Kapital zu bedienen, das uns dann als Lohn für diese Dienste Brot gibt – und Spiele. Wie dumm, daß andere Völker, diese Raubtiere – vor allem jene in den „Tigerstaaten“ – immer gleich lernen wie‘s geht! Sogar Erfindungen machen sie nun selbst. Und die unseren übernehmen sie so schnell, daß sie schon morgen auch das neueste selbst erzeugen – und so billig, daß sogar wir lieber bei ihnen kaufen. Es fehlen also Innovationen, die wirklich dauerhaft unsere Überlegenheit erweisen. Warum also geht es nicht um frohe, geistig wachsende Menschen in lebensfähiger Umwelt, sondern um
shareholder value, Kapitalertrag und Wachstumsraten? Warum setzen wir uns nicht vernünftigere Ziele? Woher das ziellose, panische Rennen? Ist es ein Davonlaufen? Aber wovor denn? Ist eine Bestie hinter uns her, die die Nachzügler verschlingt?
Oh nein, noch schlimmer: Wir leben
von diesem Spiel. Das Geld zum Leben kommt ja von den Sponsoren des Rennens, und diese verdienen es vor allem durch
Wetten. Dort oben auf den Rängen des Stadions sitzen sie, feuern uns an und wetten nicht nur auf unsere Rundenzeiten sondern auch auf die Höhe der Wettquoten und Einsätze, ja zunehmend sogar auf noch höhere Derivate. Schon wird auf den Finanzmärkten fast hundertmal mehr Umsatz und entsprechend mehr Gewinn gemacht als im Welthandel mit realen Gütern. Kann dies den Läufern da unten aber nicht egal sein? Ist das nicht ein Nullsummen-Spiel, bei dem die Gewinne und Verluste der Wettenden sich schließlich ausgleichen?
Oh nein! Die Spielregeln sorgen ja fürs rapide Wachstum der gesamten Vermögen, und deren Eigentümer dürfen sich damit immer mehr von den Lebensgrundlagen aller aneignen, also immer neue Abhängigkeiten schaffen. Früher saß man auf den Rängen in nationalen Logen beisammen und jeder förderte sein eigenes Team in der Runde der Läufer; die Globalisierung hat das drastisch geändert. Unsere Sponsoren sind mittlerweile gar nicht mehr so sehr auf die Beschleunigungswerte des eigenen Teams angewiesen wie es ihre Anfeuerungsrufe vielleicht glauben machen sollen; kommt ein anderes Team nach vorne, so ist dies für die Vermehrung der Wettgelder ebenso recht. Immer schneller schwappen die Billionen durch die höchsten Ränge des Stadions – die globalen Finanzmärkte – täglich sind es bereits Hunderte von Mark pro Erdbewohner. Wenn aber dabei genug für unser täglich Brot abfallen soll, müssen wir dringend weitere Sponsoren finden, d. h. für fremde Investoren reizvoller werden. Immer mehr Läufer sind es ja geworden, doch immer weniger Sponsoren auf den Rängen, schon weil diese immer dicker werden. Wie sollen wir „Erwachsenen“ in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Belohnung der Geldgeber mithalten, wenn doch die „Jüngsten“ im Rennen geradezu unmenschliche Kunststückchen bieten? – Aber warum lassen wir es zu, daß die paar Leute auf den Rängen sich alle unsere Lebensgrundlagen aneignen, noch dazu mit leistungslosen
Einkommen aus Wettgewinnen? Wollen wir nicht das Rennen absagen und uns daran machen, das Stadion in einen Garten zu verwandeln? – Ach so, das geht ja nicht, wegen der Besitzstände. Es gehört längst alles den Sponsoren. –
Eben hatten wir Deutschen in einer noch atavistischeren Form der Konkurrenz die gemeinsten Verbrechen der letzten Jahrtausende organisiert und wieder einmal alles kaputtgeschlagen; als Nebenwirkung der fünfzig Jahre des Wiederaufbaus entstanden phantastische Vermögen, größer als je in unserer Geschichte – wenn auch nur ein Teil der vielen tausend Milliarden den Statistikern oder gar den Finanzämtern bekannt ist. Nun aber heißt es:
Wir müssen sparen! Es ist kein Geld da!
Ja, wo ist es denn eigentlich?
An der Macht ist es. Und so dient es nicht seinem eigentlichen Zweck, den Austausch von Gütern und Dienstleistungen zu erleichtern – das lohnt sich kaum. Was sich lohnt ist das
Haben
– sofern die geistige Leistung hinzukommt, die Mehrheit im Aberglauben zu erhalten, es sei quasi naturgesetzlich, daß man Arbeit und Lebenssinn nur finden kann, wenn man mithilft, jenes Eigentum weiter anwachsen zu lassen. So fallen täglich –
täglich!
– zwischen ein und zwei Milliarden Mark Erträge auf deutsche Vermögen an! Gibt es etwa eine Chance gegen die Macht der Vermögen? – Offensichtlich gehört auch dieser Besitzstand auf den Prüfstand! Die Freiheit des Geldes und Eigentums ist es, die heute zunehmend alle wesentlicheren menschlichen Freiheiten fesselt. Man nennt das verschämt
natürlichen Strukturwandel!
Aber es ist nicht ein Naturgesetz, das uns diese Fesseln anlegt; sie liegen letztlich allein in den Köpfen, in den Knoten lebensunfähig gewordener Leitideen, in falschen Begriffen. Wenn die Mehrheit das begreift, wird sie die Fesseln abstreifen.
Gegen die Macht aufstehen können freilich nur jene, die nicht alle Kraft zum Ringen um die bloße Existenz brauchen und die doch noch was anderes im Kopf und im Herzen haben als die Gier, selbst zu den Mächtigen zu gehören. Noch sind das bei uns viele, und immer mehr von ihnen beginnen sich der Schlagworte der Anführer zu schämen, weil deren innere Widersprüche und Machtansprüche so schamlos offensichtlich wurden. Ist es vorstellbar, daß genügend viele ihre Fähigkeiten nicht zum Gebrauch der Ellbogen einsetzen wollen, sondern zum Mittragen des Ganzen? Dann könnte sich schnell eine neue Meinungsführerschaft ergeben, und ein Wettlauf nach lebensfähigeren gesellschaftlichen Leitbildern könnte einsetzen.
Hier
ist die Front, an der wir eine Spitzenposition einnehmen sollten! Dazu verpflichten uns Europäer das Verursacherprinzip und unsere freiheitliche Verfassung. Nur in den reichen Ländern ist der Wandel ohne Gewalt möglich – allein durch die Ausbreitung gesunden Menschenverstandes, den auch die Medien der Mächtigen nicht ganz zum Schweigen bringen können.
Weil es immer weniger sind, die fast alles besitzen, wird das angeblich so unpopuläre Rütteln an Besitzständen populär werden und hoffentlich auf dem ganz normalen Wege demokratischer Gesetzgebung zu fundamentalem Wandel führen.
Es ist wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Die Ideen des Liberalismus waren einst der geschichtlichen Situation angemessen und durchaus kleidsam. Der
Neoliberalismus
aber ist der letzte Versuch, die absurd gewordene nackte Macht des Geldes mit Ideologie zu verbrämen. Seine Verkünder werden sich verschämt verkriechen, wenn Kinderfragen laut werden und in Parteiprogramme und Wahlergebnisse eingehen. Und die Professoren werden sagen, sie hätten schon immer die Nacktheit erkannt und nur nichts sagen wollen, weil es sich nicht ziemte. Schon höre ich die Kinderfragen; mitten in eine Ministerrede über den notwendigen Subventionsabbau und die Verhinderung des Sozialhilfe-Mißbrauchs platzen sie herein:
Müßtet ihr nicht vor allem aufhören, das Kapital zu subventionieren? Macht nicht diese Sozialhilfe für die wenigen Reichen zehnmal mehr aus als die Sozialhilfe für die vielen Armen?
– Da sind wohl jene Milliarden gemeint, die den Besitzenden täglich als Vermögenserträge zugeschoben werden. Nun ja, wie soll ein Kind das Eigentumsrecht und die Berechtigung leistungsloser Einkommen aus Zins und Zinseszins verstehen?