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Über die Logik der Wertschöpfung

Dieser dreiteilige Vortrag von Peter Kafka wurde im „Forum der Wissenschaft“ des Bayerischen Rundfunks am 17./18./19. November 1998 (wiederholt am 3./4./5. April 2001) gesendet, fälschlicherweise unter dem Titel des Vortrags vom 24. März 1995: „Das sogenannte Energieproblem“.


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I. Gott und Teufel






Guten Abend!

Am Abend jedes Schöpfungstages steht im Schöpfungsbericht unserer Bibel: Und Gott sah, daß es sehr gut war. Sogar nach dem Erscheinen des Menschen noch. Warum breitet sich da zunehmend die Sorge aus, die Sache könnte mit uns doch noch schiefgehen?

Unter der Oberfläche des gängigen Fortschritts-Optimismus herrscht Ratlosigkeit. Jeder wache Verstand beginnt zu ahnen, daß es mit den jetzigen Leitvorstellungen wohl nicht weitergehen kann. Wenn ein Problem auftaucht machen Experten sich daran, es zu lösen, doch fast immer schafft die Lösung mehrere neue Probleme. Wenn aus einem Problem zwei werden, dann werden aus den zweien vier, acht, sechzehn – Sie wissen aus der Geschichte von den Reiskörnern auf den Feldern des Schachbrettes, wohin das führt. Meist greifen die neuen Probleme noch weiter aus, werden global und bedürfen noch dringender der Lösung.

Daß dieser Wettlauf zwischen Problemlösung und Problemerzeugung eine Instabilität des Fortschritts bedeutet, ist nun auch dem Bundespräsidenten aufgefallen, der sich doch mit seiner berühmten „Ruck-Rede“ noch unter die Einpeitscher gereiht hatte. In seiner Göttinger Rede am 4. Oktober, zum 120. Jubiläum der Görres-Gesellschaft, sprach er einerseits vom ungeheuerlichen Erfolg und atemberaubenden Fortschritt von Wissenschaft und Technik, andererseits von seinen Zweifeln, ob dadurch eine lebensfähige Selbstorganisation der Menschheit auf unserem immer enger werdenden Planeten gesichert sei. Er sagte: „Vor allem aber drängt sich mir die Frage auf: Wird durch die einseitige Betonung der Frage ‚Was können wir alles noch?‘ nicht die viel entscheidendere Frage ‚Was wollen wir eigentlich?‘ vergessen.“ Offenbar sieht Roman Herzog nun: Zum sogenannten Erfolg gehören auch die ungeahnten Folgen – für Juristen gar nicht so selbstverständlich und für manche Wissenschaftler geradezu eine Beleidigung. Wissenschaftsfunktionäre sprechen ja in ihren Festreden gerne von der Wertfreiheit der Wissenschaft und, fast im gleichen Atemzug, vom wissenschaftlichen Ethos. Gemeint ist mit diesen Schlagworten: Wenn die Forscher und Bastler nur mit gutem Willen und mit bestem Wissen und Gewissen, wie man sagt, voranstürmen, so sind sie nicht verantwortlich zu machen, falls etwa die ganze von ihnen angeführte Gesellschaft dabei ins Chaos gerät. Es heißt dann: Nach dem damaligen Stand von Wissenschaft und Technik war das nicht vorhersehbar. Also war niemand schuld!

Der Bundespräsident fragte, ob allein die Eigendynamik der Wissenschaft Tempo und Ergebnisse bestimmen solle, oder ob nicht auch gesellschaftlich formulierte Ziele und Grenzen berücksichtigt werden müssen. Aber natürlich mußte er sogleich hinzufügen, daß über die neu eröffneten Welten nur Spezialisten vernünftig sprechen können. Die demokratische Gesellschaft und selbst ihre Ethik-Kommissionen sind also auf den Rat gerade der abenteuerlustigen Anführer angewiesen. So bestimmen vor allem jene Könner, was wir wollen.

Wenn Kinder auf einer Bergwanderung voranstürmen, ebenfalls besten Willens natürlich, gehen wir anders mit diesem Problem um. Auch wenn wir noch keine Abgründe sehen, sondern sie nur in der Nähe vermuten müssen. Wer aber übernimmt die Elternrolle angesichts der ungestümen Dynamik neugieriger Wissenschaftler? Die ganze Wandergesellschaft ist ja noch kindischer als die zappeligen Anführer, und gerade die wagemutigsten Unternehmungen werden deshalb hoch belohnt.

Zur Überwindung dieses Dilemmas empfiehlt Roman Herzog die Frage „Was wollen wir eigentlich?“ wieder in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Debatten zu rücken. Er hofft offenbar, wir wüßten noch, was wir wollen. Und er endet mit den Worten: „Es gehört zur Wissenschaft, daß sie die Denk- und Erfahrungsgeschichte der Menschheit kennt und in die aktuellen Diskurse einbezieht. Ohne die Erinnerung wird sie nicht nur unhistorisch, sondern letztlich zur reinen Ideologie. So kappt sie ihre eigenen Wurzeln. Diese Wurzeln liegen in der Geschichte der Vernunft, die nie nur nach dem gefragt hat, was funktioniert, sondern nach dem, was wahr und gut ist.“

Schöne Schlußworte einer Festrede! Zyniker werden sagen: Die Geschichte der Vernunft – das ist die Geschichte der Unterdrückung der Vernunft durch den Verstand im Dienste der Macht, durch all die Experten für Brot und Spiele und Eroberungszüge und sogar fürs Wahre und Gute. Experten allerdings werden sich meist weigern, zwischen Verstand und Vernunft überhaupt zu unterscheiden; wahr und gut ist letztlich, was funktioniert, meinen sie.

Auch ich neige zu dieser Ansicht. Wenn der Verstand nicht zur Vernunft kommt, ist er nicht lebensfähig. Aber ich glaube er kommt aus eigener Kraft zur Vernunft. Wenn nicht, so scheint es mir schon an Verstand zu fehlen. Wer also ist gefragt: Was wollen wir eigentlich? Die Wissenschaftler? Deren Antwort kennen wir ja: Für die Frage nach dem Wollen sind wir nicht zuständig; wir bieten mit unseren Entdeckungen und Entwicklungen neue Optionen an; unter diesen kann dann die Gesellschaft wählen. Und wie viele neue Optionen wollen wir? So viele wie möglich natürlich. Wie viele pro Jahr also? Pro Tag? Pro Sekunde? vielleicht pro Nanosekunde? – Wer ist zuständig für die Frage nach dem Wollen? Niemand! Das brauchen wir nicht zu entscheiden. Das läuft alles durch Selbstorganisation, wie die ganze Geschichte unserer Welt von Anfang an – das hat uns doch nun die Wissenschaft überzeugend gelehrt.

Um die Logik lebensfähigen Funktionierens zu begreifen, müssen wir die Vorgeschichte von Verstand und Vernunft betrachten. Erst als diese Fähigkeiten in die Welt kamen wurde es ja gefährlich. Das erzählen uns alle Schöpfungsmythen. Der Teufel erscheint erst beim Übergang vom sechsten zum siebten Tag mit der überwältigenden Innovation des menschlichen Großhirns und der kulturellen Selbstorganisation vieler Hirne. Und globale Erfolge kann der Teufel erst erringen, seit die Wissenschaft die Führung übernimmt. Hier findet ja, unter den Bedingungen beim Marsch zum Höhepunkt der Krise, notwendigerweise eine Auslese gegen die Vernunft statt: Wer Skrupel hat, scheidet aus.

Der Schöpfungsprozeß – so nennen wir die seit etwa 15 Milliarden Jahren andauernde Auswahl von Gutem aus der Menge des Wahren. Die Naturwissenschaft hat für diesen Prozeß ein überzeugendes Bild entworfen: Alles, was unserer Beobachtung zugänglich ist, folgt den gleichen Naturgesetzen und hat eine gemeinsame Geschichte. Nur deshalb können wir ja überhaupt von unserem Universum sprechen. Und diese unsere Welt entsprang einem ungeheuer simplen Zustand, den wir den Urknall nennen. Anfangs war alles eins. Vielleicht so einheitlich wie möglich. Und das alles flog so gleichmäßig wie möglich auseinander. Doch dieser simple Beginn und die Gesetze bestimmen nicht etwa, wie alles weitergeht – wie sollten sie das denn in der gewaltigen Menge von Möglichkeiten. Mit den Naturgesetzen wäre es doch sicher auch verträglich gewesen, wenn meine Mutter meinen Vater nicht getroffen hätte. Die Auswahl des Wirklichen aus dem Möglichen geschieht viel mehr durch unermeßlich viele Zufälle. Die Physik unseres Jahrhunderts hat uns gelehrt: Die Grundgesetze selbst sorgen für ständiges zufälliges Herumzappeln. Die Wirklichkeit muß ungeheuer viele Möglichkeiten abtasten um ihren Weg ins Reich des Möglichen zu finden. Wo wird sie dabei wohl länger verweilen? Darauf kommen wir gleich zurück.

Wie unvorstellbar viele Möglichkeiten es gibt, ahnen Sie schon, wenn Sie sich die verschiedenen Muster vorstellen, die man mit geraden Strichen zwischen ein paar Punkten zeichnen kann. Bei zwei Punkten gibt es nur zwei Möglichkeiten: Man kann einen Strich ziehen oder nicht. Bei drei Punkten können Sie ein Dreieck zeichnen, oder zu je einem der drei Winkel seine zwei Schenkel, oder nur jeweils eine Dreiecksseite, oder nur die nackten Punkte ohne Strich. Das sind also acht verschiedene Beziehungsmöglichkeiten. Bei vier Punkten ergeben sich schon 64. Wer es noch mit fünf Punkten probieren möchte, entdeckt dabei vielleicht die Formel, mit der sich folgende Frage beantworten läßt: Wie viele Punkte müßte ich nehmen, damit die Anzahl verschiedener Muster größer wird als die Zahl der Atome im beobachteten Universum? Nun, wir schauen etwa zehn Milliarden Lichtjahre weit, und die mittlere Materiedichte ist ganz grob 1 Atom pro Kubikmeter – offenbar eine ziemlich große Zahl von Atomen im Weltall, nicht wahr? Aber für nur 24 Punkte ist die Anzahl verschiedener Beziehungsmöglichkeiten bereits größer.

In der wirklichen Welt gibt es also eine unvorstellbare Menge möglicher Strukturen und Prozesse. Hier treten ja nun die Atome in gegenseitige Beziehung, und nicht nur durch gerade Striche. Unmöglich also, daß der simple Beginn und die Gesetze die weitere Entwicklung im Detail vorherbestimmten. Daß unsere Milchstraße, unsere Sonne, unsere Erde da sind, daß hier Leben entstand, daß dieses zu raffinierten Mustern zwischen hundert Milliarden Hirnzellen gelangte, und daß schließlich noch Beziehungen zwischen Milliarden Menschenhirnen heranwuchsen, daß Mutter und Vater sich trafen, daß ich hier spreche und Sie mir zuhören – wie kam das alles? Wie fand die Wirklichkeit mit der Zeit gerade diese Gestalten im Raum der Möglichkeiten?

Das heutige wissenschaftliche Weltbild erlaubt eine Antwort auf diese Frage. Zwar ist die Suche nach „letzten“ Naturgesetzen keineswegs zu Ende, ja vielleicht kann sie gar nicht enden. Sogar der Wirklichkeitsbegriff der modernen Physik ist ungeklärt, und wir können natürlich auch nicht sicher sein, ob die bisher untersuchten physikalischen Wechselwirkungen alle unsere bisherigen Erfahrungen möglich machen. Sollte es, zum Beispiel, doch so etwas wie „außersinnliche Wahrnehmung“ geben, wäre das ja vielleicht nicht der Fall. Und doch genügt schon das, was wir über Materie in Raum und Zeit herausgefunden haben, um das Prinzip des Schöpfungsprozesses zu erkennen. Da ist einerseits der Raum der Möglichkeiten. Er hat viele Namen, man nennt ihn auch das „Reich der Ideen“ oder den Himmel, die Ewigkeit. Und da ist andrerseits die Wirklichkeit, die sich in dieser geistigen Welt durch zufälliges Zappeln einen Weg sucht und dabei eine winzige Auswahl des Möglichen verwirklichen muß. Auf den ersten Blick mag es absurd erscheinen, daß die wunderbaren Gestalten unserer Welt durch Zufall gefunden worden sein könnten. Aber mit etwas Nachdenken sehen wir leicht ein: sie sind nur durch Zufälle zu finden. Der Zufall ist gewissermaßen die einzige Notwendigkeit im Schöpfungsprozeß.

Wenn wir diese Zufälle zurückverfolgen verzweigt sich die Geschichte in immer mehr und immer kleinere Zufälle. Und gar nicht weit zurück stoßen wir auf winzige Zufälle, ohne die alles ganz anders hätte kommen können. Viele von Ihnen kennen das wohl schon als den „Schmetterlingseffekt“ aus der Chaostheorie des Wetters: Auch ohne Quantenphänomene ist es schon so, daß das heutige Wetter hier ganz anders sein könnte, wenn etwa vor genau einem Jahr an einer Stelle in Neuseeland nicht gerade ein Schmetterling mit seinen Flügeln geflattert hätte. Das heißt nicht etwa, daß jenes Flattern die Ursache des heutigen Wetters war – es gibt vielmehr fast unendlich viele solcher winzigen Ursachen, und es ist daher ganz allgemein Unsinn, von „Kausalketten“ zu sprechen. Es handelt sich ja vielmehr bei fast allem Geschehen um fast unerschöpfliche Vernetzungen. Aber es ist eben doch so, daß ohne dieses Flattern und ohne unermeßlich viele andere derartige Zufälle das Wetter heute und hier ganz anders sein könnte. Und wenn wir die kleinen Zufälle noch ein wenig zurückverfolgen, stoßen wir bald auf den Einfluß der echten Zufälle, nämlich der quantentheoretisch unvermeidlichen zufälligen Schwankungen.

Der Raum der Möglichkeiten ist aber erfüllt von unermeßlich vielen Gestalten. Den meisten kommt die Wirklichkeit bei ihrem zufälligen Gezappel niemals nahe, doch muß sie durch ihre zufälligen Schwankungen ständig benachbarte Möglichkeiten abtasten und dabei viele verschiedene Gestalten berühren. Die meisten davon werden beim weiteren Gezappel wahrscheinlich rasch wieder verlassen. Aber gelegentlich finden sich auch sehr „attraktive“ darunter. Systemtheoretiker nennen solche Gestalten der möglichen Systemzustände Attraktoren. Deren innere und äußere Organisation sorgt dafür, daß sie nicht so leicht wieder verlassen werden wenn die Wirklichkeit einmal in ihren Einzugsbereich geraten ist.

Schauen wir solche bewährten Gestalten näher an, so sehen wir: sie sind zyklischer Natur. Beim Durchlaufen des Zyklus geschieht im Wesentlichen immer wieder das Gleiche – denken Sie nur ans Atom. Genau darin liegt ja die Bewährung, die Lebensfähigkeit der Gestalt.

Als unsere Welt im Urknall auf ihren Weg entlassen wird ist da nur diese eine, einzige, einheitliche Anfangsidee verwirklicht, aber schon in den ersten Sekundenbruchteilen werden mögliche Elementarteilchen durchprobiert, und die dauerhaftesten bleiben. Dann kann am Ende des Schöpfungstages stehen: Siehe da, es war sehr gut. Und doch bricht ein neuer Tag an. Die gelungenen Gestalten bleiben, immer wieder werden ihre Zyklen durchlaufen. Aber im weiteren Geprassel der Zufälle finden sie gemeinsam „höhere“ attraktive Gestalten. Diese sind durch schwächere Wechselwirkungen organisiert als ihre „Bauteile“, die Errungenschaften des vorigen Tages; eben deshalb werden ja diese alten gelungenen Gestalten nicht verlassen. Der Übergang zu einem neuen Schöpfungstag bedeutet, daß das Gezappel der zuvor gefundenen bewährten Gestalten einen neuen Bereich im Raum der Möglichkeiten eröffnet. In diesen hinein stößt nun die Wirklichkeit relativ schnell weiter vor. Naturgemäß sind es vor allem ungewöhnlich große Zufälle, Unfälle, die in solches Neuland führen. Die letzten Raffinessen des vorangegangenen Schöpfungstages mögen dabei im heftigen Gezappel untergehen. Aber mit dem verbliebenen Bewährten wird doch weiter geknetet bis es wiederum heißt: Und siehe da, es war sehr gut.

Warum denn, warum geht es in diesem Schöpfungsprozeß, im evolutionären Selbstorganisationsprozeß der Materie in Raum und Zeit, wie wir das heute nennen, warum geht es da „aufwärts“ zu immer höherer Komplexität, zu immer schöneren, wertvolleren Gestalten, wie wir es empfinden?

Nun, komplex bedeutet „verflochten“ (lat. plectere). Das heißt: komplex bedeutet „passend zusammengefügt“. Wenn die Wirklichkeit immer wieder übergeordnete Gestalten findet die mit immer schwächeren Wechselwirkungen organisiert sind, so bedeutet das ja gerade, daß in ihnen die Dinge besser zusammenpassen. In einem genügend reichen Raum der Möglichkeiten ist also der Aufstieg zu höherer Komplexität eine logische Selbstverständlichkeit: Wahrscheinlich überlebt Überlebensfähigeres. Oder, noch krasser tautologisch formuliert: Wahrscheinlich geschieht Wahrscheinlicheres.

Wunderbar, was die Wirklichkeit der Elementarteilchen, der Himmelskörper, der irdischen Biosphäre, der menschlichen Noosphäre in diesem Prozeß bereits gefunden hat, nicht wahr? Wer mag sich da nicht zurücklehnen und mit freudiger Spannung erwarten, was uns der Himmel als nächstes bietet!

Aber nun kommt der Pferdefuß in diesem Schöpfungsprinzip. In einem räumlich isolierten Bereich führt der erfolgreiche Aufstieg selbst, ganz ohne äußere Unfälle, unvermeidlich in eine Krise. Ich nenne sie die globale Beschleunigungskrise. Ihre logische Struktur ist so einfach wie das Schöpfungsprinzip selbst. Zu jeder Zeit wird ja an der jeweiligen Front im Reich der Möglichkeiten das Tasten nach neuer Wirklichkeit von gewissen führenden Gestalten bestimmt, nämlich von jenen, die am schnellsten zu neuen Attraktoren vorankommen. Solange noch neue lebensfähige Gestalten erreichbar sind wird also die Innovationsgeschwindigkeit anwachsen, und die neuen Gestaltprinzipien werden sich auch geographisch zunehmend durchsetzen. Kurz gesagt: das Schnelle und das Große haben im Auswahlprozeß einen selektiven Vorteil. – Wie lange wohl? Gibt es da kritische Grenzen?

Nun, die Erde ist rund, und der umgebende Weltraum zu leer. Die Organisation im Großen kann also nicht die Globalität überschreiten. Aber es gibt auch eine zeitliche kritische Grenze. Wenn die Innovationsfähigkeit so weit gestiegen ist, daß innerhalb der Zykluszeit der führenden Gestalten zu ganz anderen Attraktoren gesprungen wird, so wird es immer unwahrscheinlicher, daß Neues und Altes zusammenpassen. Dann steigt die Wirklichkeit nicht mehr aufwärts zu höherer Komplexität, sondern sie beginnt im Reich der Möglichkeiten abwärts zu taumeln. Dabei tauchen Probleme auf, wie man sagt, die Dinge passen nicht mehr zusammen. An der Front werden die Probleme zunächst mit noch schnellerer Innovation vordergründig gelöst. Aber die Anführer koppeln sich dabei immer weiter vom evolutionären Hinterland ab. So erzeugt jede Problemlösung wahrscheinlich mehrere neue Probleme. Und wie wir sahen: Die neuen greifen räumlich noch weiter aus und bedürfen dringend noch rascherer Lösung. So verstärken sich Eile und Einfalt gegenseitig bis zum Erreichen des Höhepunkts der Krise.

Mir leuchtete diese Logik erstmals ein, als ich in der Mitte meines Lebens die Welt meiner Kindheit nicht wiederfand, die ich kennen und lieben gelernt hatte. Meine Kinder machen diese Erfahrung nun schon am Ende ihrer Schulzeit.

Lokal gesehen gibt es das schon lange als menschliche Erfahrung, mindestens seit Beginn der Kulturentwicklung. Aber nun gilt es weltweit: Bevor unser Generationenzyklus nur einmal durchlaufen ist findet sich nicht nur unsere kulturelle Wirklichkeit in völlig neuen Bereichen des Raumes der Möglichkeiten, sondern sogar das Klima der Erde droht umzukippen, und die Biosphäre wird stündlich um etwa zehn Arten ärmer – innerhalb eines Menschenalters verschwindet ein wesentlicher Teil von ihr. Es wäre kindisch, das für unkritisch zu halten. Etwa als sagte man: Es kann doch den Blüten egal sein ob der Stamm abgesägt oder die Wurzeln ausgerissen werden.

Wir sehen nun: Die Krise ist logisch unvermeidbare Folge des Schöpfungsprinzips, aber sie konnte auf unserem Planeten erst mit dem Menschen erreicht werden. Zwar war der Schöpfungsprozeß in Versuch und Irrtum von Anfang an ein Wettspiel von Problemlösung und Problemerzeugung; zwar hatte natürlich auch in der Entwicklung des Lebens schon die schnellere Innovation einen selektiven Vorteil, zum Beispiel setzte sich ja die Entdeckung der sexuellen Fortpflanzung so rasch durch, weil sie in jedem Schritt viel mehr Möglichkeiten zur Auswahl stellte und damit ein schnelleres Vorankommen im Raum der Möglichkeiten erlaubte. Aber im Aufstieg des Lebendigen mußte doch jede zufällige Änderung über viele Generationen hinweg auf ihr Zusammenpassen mit der ganzen Biosphäre hin getestet werden bevor sie sich etwa in den Genpool einer Art ausbreiten konnte. Schnelle Innovation – schnell im Vergleich zum Reproduktionszyklus – war also mit biologischen Mitteln unmöglich. Aus eigener Kraft konnte die Biosphäre nicht abstürzen, weil immer genügend Vielfalt für viele verschiedene Versuche und genügend Zeit zum rechtzeitigen Erkennen grober Irrtümer vorhanden waren. Selbst nach Entwicklung des menschlichen Großhirns und in den Anfängen der Kulturentwicklung war der Aufstieg zu höherer Komplexität noch wahrscheinlich. Eine raffinierte Verflechtung angeborener Verhaltensweisen und kultureller Tradition ließ es nicht zu, daß bewährte Leitideen rasch verlassen wurden. Das Wort Ethik kommt bekanntlich vom griechischen ethos, und das bedeutet „Gewohnheit“. Der Höhepunkt der globalen Beschleunigungskrise war erst mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Technik erreichbar. Deren Erfolge ließen den raschesten Wandel zur Gewohnheit werden, zur fixesten globalen Leitidee. Sie alle haben das sicherlich im Ohr: In unserer Zeit des rasanten weltweiten Wertewandels...! Die Diagnose stimmt. Aber der gängige Therapievorschlag, wir bräuchten deshalb noch schnellere Innovation und mehr globale Vereinheitlichung, ist natürlich absurd.

Die Eröffnung dieses Neulandes im Raum der Möglichkeiten durch die Entdeckung der Möglichkeiten großer neuronaler Netze in der Hirnrinde war vermutlich Folge des letzen großen globalen Unfalles von außen. Vor etwa 65 Millionen Jahren traf ein kleiner Asteroid, ein Stein von der Größe des Montblanc, die Erde. Die klimatischen Folgen ließen nicht nur die Saurier aussterben, sondern auch viele andere hochspezialisierte Arten. In den entstandenen ökologischen Nischen wurden dem evolutionären Gezappel der verbliebenen Basis viele neue Gestalten erreichbar. In nur zehn Millionen Jahren stürmten Säugetiere und Vögel an die Front des biologischen Fortschritts. Der sechste Schöpfungstag näherte sich dem Ende, und schon die Mythen unserer Vorfahren berichten, wie nun die neue Wirklichkeit in den Einzugsbereich einer zuvor einflußlosen geistigen Gestalt geraten mußte: Der Engel Luzifer, das ist der „Lichtbringer – wie Prometheus, der „Vordenker“, der den Menschen das Feuer vom Himmel brachte – dieser Engel hat all die Tage lang, die ja Milliarden Jahre währten, der Schöpfung zugesehen und die Naturgesetze verstanden. Er weiß wie Atome und Moleküle funktionieren, die Chemie, der genetische Code, die lebendige Zelle, die Organe, das Hirn, die Kommunikation, der Markt, die Werbung – warum soll er da so lange warten! Das muß auch schneller gehen. – Nach dem Absturz hat er bekanntlich einen anderen Namen: Er heißt nun nicht mehr der „Lichtbringer“ sondern der „Durcheinanderwerfer“, griechisch diabolos. Aber böse ist doch dieser Teufel eigentlich gar nicht. Ist es nicht eher Dummheit, was uns daran hindert, die logischen Voraussetzungen erfolgreicher Schöpfung zu erkennen?

Vielfalt und Gemächlichkeit – mit diesen Schlagworten habe ich die Bedingungen lebensfähigen Fortschritts oft bezeichnet. Beide werden in der globalen Beschleunigungskrise notwendig zerstört, aber durch entsprechende Selbstorganisation der menschlichen Freiheit sind sie wieder herstellbar und dauerhaft zu garantieren. „Krise“ heißt Entscheidung, nicht Untergang. Der menschliche Verstand, der unsere Erde in diese Krise hineintreiben mußte, kann nun ihr Wesen wissenschaftlich begreifen, und die „Systemtheorie von Gott und Teufel“ liefert einfache, logisch selbstverständliche, also unwiderlegbare Argumente für die bevorstehende Entscheidung gegen den Untergang.

Mancher wird meinen, in dem was ich hier sage läge ein fundamentaler Widerspruch. Die Krise ist doch offenbar dringend, wir müssen schnell heraus und global. Sollen wir in Eile zur Gemächlichkeit und global zur Vielfalt? – Das ist aber kein Widerspruch, das ist das Wesen globaler Instabilität! Diese Instabilität definiert selbst die Zeit bis zum Aufprall. Denken Sie etwa an einen Fluß, auf dem wir alle rudern, flußabwärts, weil‘s da so gut geht, und vorne hören wir einen Wasserfall; die Zeit, in der wir noch ans Ufer kommen müssen, ist durch den Fluß vorgegeben. Wir müssen also schnell aussteigen aus dem, was wir zur Zeit falsch machen.

Morgen möchte ich die attraktiven Ideen, die uns noch immer tiefer in die Krise treiben, etwas näher untersuchen. Wir müssen verstehen, wodurch eigentlich der absurde Wettbewerb innerhalb der Menschheit organisiert ist, jenes Rennen, von dem es heißt: Wer nicht vorne ist, der geht unter – und für das doch niemand ein Ziel nennen kann. Das einzige Ziel ist anscheinend: Es muß schneller werden!

Satirische Pointierung wird sich also morgen kaum vermeiden lassen. Ein paar Kinderfragen werden uns dann überzeugen: die sogenannten Sachzwänge liegen eher in Denkfehlern – sind also überwindbar. Übermorgen folgt dann der letzte Vortrag, in dem ich die Gesellschaft des „Siebten Tages“ so skizzieren möchte, daß in vielen Köpfen ein attraktives Bild entstehen kann.









II. Das Rennen






Guten Abend!

Gestern habe ich versucht, ein Weltbild zu skizzieren, in dem wir verstehen können, unter welchen Bedingungen die Schöpfung „aufwärts“ führt, zu „gelungenen“ Gestalten, die zusammenpassen. Und wir sahen dabei, daß in dieses Prinzip der Schöpfung, das so lange aufwärts führte, ein Problem eingebaut ist, eine logisch unvermeidliche Krise, die ich die globale Beschleunigungskrise nannte. Heute möchte ich nun zunächst zeigen – anhand von ganz aktuellen Beispielen aus der politischen Diskussion – wie das Rennen zum Höhepunkt der globalen Beschleunigungskrise im einzelnen organisiert ist. Morgen werden wir dann fragen, ob angesichts der systemtheoretischen Logik überhaupt Rettung möglich ist, und vor allem wollen wir dann die Annäherung an lebensfähigere Ideen versuchen. – Zunächst also zur Organisation der Krise.

Die liegt natürlich darin, daß die zuletzt erfolgreichsten Ideen weiterhin naheliegen und attraktiv sind. Das sind: die wirtschaftliche Wertschöpfung und die wissenschaftlich-technische Innovation. Ändern soll sich nur, daß beides immer schneller und globaler vonstatten gehen soll. Und diese Macht der alten Attraktoren ist durch mächtige gesellschaftliche Institutionen gesichert. Dennoch können wir logisch einsehen, daß beide Ideen zusammenbrechen müssen. Das hat natürlich damit zu tun, daß beide keine vernünftigen Wertvorstellungen haben. In der Wirtschaft gilt etwas als wertvoll, wenn dafür bezahlt wird, und die Wissenschaft definiert sich, wie wir sahen, sogar ausdrücklich als wertfrei. Beide berufen sich auf die Demokratie: wenn die Mehrheit etwas will, hat sie recht! Was sie will, ist prinzipiell gut. Manche Anführer glauben sogar, sie haben deshalb recht, weil eine Mehrheit sie gewählt hat. Unfug! In einer globalen Instabilität hat logischerweise die Mehrheit unrecht! Das spricht nicht gegen die Idee der Demokratie, aber wohl für Fortschritte bei der „Erziehung des Menschengeschlechts“, wie das einmal genannt wurde. Wir werden morgen sogar sehen, daß gerade die weitere Demokratisierung, die Fortsetzung der Emanzipation von allerlei Mächten, die Rettung wahrscheinlich machen wird. Es sind also nicht etwa alle attraktiven Ideen der Moderne nicht mehr lebensfähig – ganz im Gegenteil! – nur die übergeordneten Leitideen sind falsch geworden. Sonst ist fast alles immer noch sehr gut. Sonst wäre ja die Lage hoffnungslos – in der Eile!

Zunächst zur Wissenschaft. – Wir haben heute Experten für lauter enge Bereiche, weil das Wissen so viel geworden ist, daß ein Einzelner es gar nicht überblicken kann. Wir haben aber keine Experten fürs Zusammenpassen – das ist auch gar nicht möglich. Komplexität geht bei der Analyse verloren. Natürlich werden die Experten von denen benutzt, die Macht haben und behalten wollen. Das entspricht dem alten Wort divide et impera! – teile und herrsche! Wir wissen ja, daß unter den Leistungen von Wissenschaft und Technik der letzten hundert Jahre nun sogar das Klima der Erde umzukippen droht. Ein paar Spurengase in die Atmosphäre, und alles ändert sich – nun ja, denken wir uns nur, wir hätten 24 neue Stoffe in der Atmosphäre: wer könnte denn vorhersagen, was zwischen denen für verschiedene Beziehungen möglich sind? Denken Sie an das Beispiel von gestern abend! Das läßt sich nicht vorhersagen, auch nicht mit den größten Computern zuverlässig ausrechnen. Oder die Ozonschicht, die wir innerhalb weniger Jahrzehnte schon beinahe abgebaut haben: geschaffen wurde sie vom Lebendigen im Laufe von hunderten von Millionen Jahren, und nur durch sie konnte das Leben „höher“ aufsteigen, weil die ultraviolette Strahlung der Sonne dadurch zurückgehalten wurde, die höhere Komplexität verhindert hätte. Das heißt: das Leben hat sich selbst die Bedingungen geschaffen, unter denen es höher klettern konnte. Die Zerstörung des Strahlungshaushalts der Erde ist eine Wahnsinnshandlung! Es finden ja nun auch ständig Konferenzen darüber statt. Aber Beschlüsse lassen sich offensichtlich immer noch nicht fassen. Oder denken wir ans Artensterben – schon erwähnt: innerhalb einer Generation reduzieren wir die Biosphäre so etwa auf die Hälfte! Oder die Chemie: stündlich erfinden wir ungefähr ein neues Molekül, grad in dem Tempo, in dem die Arten aussterben, beinah. Und die neuen Moleküle hat es vielleicht im ganzen Universum zuvor nicht gegeben – die Menge der Möglichkeiten ist unerschöpflich! Aber wir wollen das Neue möglichst auch gleich Millionen-Tonnen-weise verkaufen und freisetzen! Kann das gutgehen? Die Wahrscheinlichkeit ist offenbar gering. Oder, was wir schon erwähnt haben: der Genpool aller Arten, in den nun die Forscher hineinlangen, um zu unserem Segen und Profit neue Lebensformen zu schaffen. Die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen, daß das gutgehen kann, beim besten Willen! Aber wer das sagt, gilt als Panikmacher. Wir wissen doch, wenn eine Katastrophe eintritt dann heiß es: „Das war mit dem damaligen Stand von Wissenschaft und Technik nicht vorhersehbar. Also ist niemand schuld.“

Oder denken wir an eine andere moderne Folge von Technik und Wissenschaft: die ungeheure Zunahme der Kommunikation. Kommunikation mündiger Bürger sollte doch etwas gutes sein! Aber man vergißt: Kommunikation braucht Gemeinsamkeit, Kommunität, und die wächst ganz langsam. Man kann nicht mit allen Menschen auf der Erde vernünftig kommunizieren – dabei ergibt sich Chaos. Man braucht für wirkliche Kommunikation Vertrauen, und Vertrauen ist wohl nur hierarchisch organisierbar; eine Hierarchie des Vertrauens aufbauen, das geht nicht mit Massenmedien. Sind also auch andere Formen der Demokratie notwendig? Sollten wir nicht auch darüber wissenschaftlich, also systemtheoretisch nachdenken, ob die Organisation der Demokratie sich verbessern läßt? Die Vorstellung des mündigen Bürgers, der aus 99 Kanälen sich das richtige herauspickt und damit die Welt verbessern kann, ist einfach kindisch.

Besonders absurd ist das natürlich in der Ökonomie – falls wir diese unter die Wissenschaften zählen dürfen. Schon vor der ersten Seite ihrer Lehrbücher wird meist stillschweigend vorausgesetzt, was herauskommen soll. Dort spielt eine große Rolle der homo oeconomicus, der alles sofort überblickt und unverzüglich zum langfristig größten Vorteil handelt; und wenn viele das so tun, dann sorgt die Unsichtbare Hand dafür, daß es auch im Ganzen gutgeht. Diese Vorstellung enthält überhaupt nicht das Problem der Zeit, die gebraucht wird um abzuwägen und vernünftige Entscheidungen zu treffen. Das ist auch einer der Gründe, warum die Wirtschaftstheorien so wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben. Schon die Grundbegriffe enthalten fatale innere Widersprüche. Das wird auch deutlich in den pädagogischen Reden des Bundespräsidenten, der uns für die globale Konkurrenz fitter machen wollte. Erinnern Sie sich, wie beeindruckt er seinerzeit aus Asien zurückkam? Die Wolkenkratzer und die Wachstumsraten! Da sollten wir uns ein Beispiel nehmen – an Indonesien und Malaysia! Aber ist das nicht als tadelte ich meinen Achtzehnjährigen: „Wieder bist du kaum gewachsen dieses Jahr! Nimm dir doch ein Beispiel an deiner kleinen Schwester!“ Wie kindisch, sich beim Erwachsenwerden der Wachstumsschwäche zu schämen! Das weiß doch schon der Jugendliche, daß nun andere Aufgaben bevorstehen! Offensichtlich ist in den führenden Industrienationen jetzt etwas ganz anderes fällig als sogenanntes „Wirtschaftswachstum“! Und das zeigen nicht nur die ökologischen und gesellschaftlichen Zerstörungsprozesse, für die ja viele kein Gespür haben, nein, auch auf der Oberfläche, im Wirtschaftsleben, meldet sich nun eben dieses garstige Jucken, und alle verordneten Salben scheinen es nur schlimmer zu machen. – Daß etwas nicht zusammenpaßt merkt jeder. Offenbar muß alles anders werden. Und immer mehr Anführer aus Politik und Wirtschaft heben Stimme und Zeigefinger oder die Peitsche, um Aufbruchsstimmung zu verbreiten. Ein Ruck muß durchs Land gehen! Die Welt ist im Aufbruch und wird nicht auf Deutschland warten! – Aber wohin es gehen soll, bleibt vage. Das Volk soll sich aus seiner Depression befreien und die lähmende Wachstumsschwäche überwinden! Alle Besitzstände müssen auf den Prüfstand! Eine Vision brauchen wir, eine Gesellschaft der Selbständigkeit, in der Freiheit der zentrale Wert ist! Wenn wir alle Fesseln abstreifen, müssen wir es schaffen wieder eine Spitzenposition einzunehmen und eine Welle neuen Wachstums auszulösen, das neue Arbeitsplätze schafft!

Er hat viel Lob bekommen für diese Worte. Warum erfaßt uns nicht endlich jene Dynamik, die Roman Herzog damals in Asien so faszinierte? Vorwärts endlich – ins vorige Jahrhundert! Aber Sie wissen, inzwischen ist ja in Asien einiges geschehen.

Was muß heute eigentlich wachsen, damit es uns besser geht? Die Weisen sagen noch immer: das reale Sozialprodukt, die sogenannte Wertschöpfung. Was sind das für Werte, die wir da schaffen? Offenbar dient die wirtschaftliche Aktivität in entwickelten Ländern überwiegend nicht mehr dem Wohl der Bürger. Übrigens predigen das auch die Experten schon lange, ohne freilich zu merken, was sie da sagen: Wenn das reale Bruttosozialprodukt nicht wächst, geht es uns schlechter. Mit anderen Worten: Wenn wir heuer das gleiche tun wie voriges Jahr, so geht‘s begab. Merkwürdig – wenn wir doch dauernd Werte schaffen! Das muß doch wohl bedeuten (wenn uns nicht ständig von außen Gewalt angetan wird): Unser eigenes Tun richtet insgesamt mehr Schaden als Nutzen an! Tun wir noch mehr vom Gleichen, um das Sozialprodukt wachsen zu lassen, wird‘s also wohl noch schneller bergab gehen, nicht wahr?

Das ist kein scheinbares Paradox, sondern ein echter innerer Widerspruch unserer Leitideen. Im Bruttosozialprodukt wird ja einfach alles, was Geld gekostet hat, aufaddiert – es gibt gar kein negatives Tun! Noch die schlimmste Zerstörung trägt positiv bei! Das heißt: Schon eindimensionales Denken ist den Wirtschaftsweisen zu hoch. Sie wollen nicht einmal Plus und Minus unterscheiden, eine halbe Dimension muß genügen. Gerade mal die Null kommt noch vor, mit ihr wird dann bewertet, was nicht verkauft und bezahlt wird, z. B. was Eltern für Kinder tun.

Ganz offensichtlich versagt dieser Expertenmaßstab auf den Prüfständen der Logik wie der Praxis. Nicht nach dem Geldumsatz wäre doch wirtschaftlicher Erfolg zu beurteilen, sondern nach den Folgen für Menschen und Umwelt. Wollen wir auch als Erwachsene weiter wachsen, müssen wir es wohl in anderen Dimensionen versuchen. Der eigentliche Reformstau liegt offenbar in den Grundideen über die sogenannte Wirtschaft. Die Mehrheit darf sich nicht weiter von hochbezahlten Weisen weismachen lassen, das Wirtschaftsleben folge unabänderlichen Naturgesetzen. Eine einsichtige Mehrheit kann und wird die Rahmenbedingungen der Wirtschaft ändern.

Und was ist mit der Arbeit? Jahrhunderte lang haben wir darauf hingearbeitet, weniger arbeiten zu müssen. Wie dumm – jetzt ist das geschafft! Bald können wenige Prozent aller Menschen den Güterbedarf aller anderen decken! Was sollen dann die anderen tun? Könnten wir das bißchen Arbeit gerecht verteilen und uns mit der gewonnenen Muße höheren Fähigkeiten zuwenden? – Blauäugig! sagen die Experten. Härter müssen wir arbeiten, denn wir stehen im globalen Wettbewerb! Was das ist? Eine Art Weltkrieg, möchte man meinen, wenn man die Heerführer von schlagkräftigem Projektmanagement und Durchbruchs-Strategien reden hört. Aber nein, heißt es, das ist ein friedlicher Wettbewerb – wenn auch kein freiwilliger. Wer beim wachsenden Tempo nicht schritthält ist verloren.

Was ist eigentlich das Ziel des Rennens? Wohin will alle Welt, die da Runde um Runde im globalen Stadion läuft? Niemand kann ein Ziel nennen! Es gibt gar keins! Nur schneller muß das Rennen werden! Wer im Wettbewerb nicht vorne ist, geht unter, heißt es. Und doch, im gleichen Atemzug: Wir brauchen mehr Wettbewerb! Wir wollen also nicht nur, daß andere untergehen, nein, wir wollen uns dafür auch noch mehr anstrengen müssen.

Könnten wir nicht gemeinsam dafür sorgen, daß es alle leichter haben und daß trotzdem niemand untergehen muß? Doch wie merkwürdig: Ja, aber dafür brauchen wir doch mehr globale Zusammenarbeit, heißt es dann. Und wie merkwürdig: Mehr internationale Kooperation scheint noch mehr Konkurrenz zu bedeuten. Je stärker wir aneinander gebunden sind, um so schneller scheinen wir allesamt laufen zu müssen – in immer exakterem Gleichschritt, weil ein einziger Stolperer alle stürzen ließe. Ist es da überhaupt noch denkbar sich aus den Bindungen zu lösen, etwa die Verfolger höflich vorbeizuwinken, sich am Rande der Aschenbahn auf den Rasen zu setzen und eine Ruhepause einzulegen? Vielleicht auch denen zu helfen, die so weit zurückliegen, daß bei ihnen sogar das Wachstum des ganz gewöhnlichen Sozialproduktes noch positiv zu bewerten ist? Um was eigentlich konkurrieren wir mit denen? Warum trifft es uns so hart, wenn es anderswo auf der Welt aufwärts geht?

Nun ja, die einst von uns kolonisierten wollen uns nicht mehr dienen, wir können sie nicht mehr so recht ausbeuten, müssen also selbst wieder mehr arbeiten. Wie gut also, daß wir es geschafft haben, mit immer weniger Arbeit alles zu produzieren was wir brauchen, nicht wahr? Ach nein, wie dumm – wir brauchen doch die Arbeitsplätze! Ganz wirr wird mir im Kopf! Wofür brauchen wir sie eigentlich? Ist es in einem so hoch entwickelten Land noch sinnvoll, die Grundversorgung vom Arbeitseinkommen abhängig zu machen? Immer lauter wird diese Frage, in allen Parteien, sogar Sir Ralf Dahrendorf stellte sie, einst führender deutscher FDP-Mann, dann Direktor der London School of Economics (sicher keine sozialistische Kaderschule) und heute Mitglied des britischen Oberhauses. Er denkt, wie nun schon viele, über ein allgemeines Bürgergeld für das Existenzminimum, Erziehung, Alter und Krankheit nach; an Bürgern, die gerne Arbeit übernähmen, um sich über die Grundbedürfnisse hinaus etwas leisten zu können, werde es dann gewiß nicht fehlen.

Aber ist das nicht weltfremd? Arbeit wird doch nicht übernommen, sondern gegeben – Arbeitgeber sind nötig! Arbeitsplätze werden schließlich zur Kapitalbedienung geschaffen! Doch nicht, damit wir essen und wohnen und Kinder wachsen lassen können! Durch Arbeit darf das Leben letztlich nicht leichter werden! Wo bliebe sonst die Beschleunigung des Rennens – die Grundlage des Wachstums, in das schließlich sämtliches Vermögen investiert ist? Nein, bedrohlicher muß alles werden! Erst der Kampf ums nackte Überleben mobilisiert letzte Reserven.

Aber unsere eigenen Bedürfnisse reichen gar nicht mehr aus, um unser Kapital zufriedenzustellen. Nicht nur, daß wir zu wenig Not leiden, um das Letzte zu geben – diesem Mangel wäre ja durch Sozialabbau abzuhelfen – nein, wir sind doch nun einmal eine Exportnation, das weiß doch jeder. Wir dürfen uns nicht so sehr um eigene Bedürfnisse kümmern sondern können nur leben, wenn andere Nationen vieles von uns kaufen, das sie noch nicht selbst herstellen können. Deshalb gilt bekanntlich: Die Zukunft der Arbeit heißt Innovation! Wir müssen neue Bedürfnisse schaffen! Vor allem natürlich bei anderen, damit uns nicht die Arbeit ausgeht, die wir brauchen, um das Kapital zu bedienen, das uns dann als Lohn für diese Dienste Brot gibt – und Spiele. Wie dumm, daß andere Völker, diese Raubtiere – vor allem jene in den „Tigerstaaten“ – immer gleich lernen wie‘s geht! Sogar Erfindungen machen sie nun selbst. Und die unseren übernehmen sie so schnell, daß sie schon morgen auch das neueste selbst erzeugen – und so billig, daß sogar wir lieber bei ihnen kaufen. Es fehlen also Innovationen, die wirklich dauerhaft unsere Überlegenheit erweisen. Warum also geht es nicht um frohe, geistig wachsende Menschen in lebensfähiger Umwelt, sondern um shareholder value, Kapitalertrag und Wachstumsraten? Warum setzen wir uns nicht vernünftigere Ziele? Woher das ziellose, panische Rennen? Ist es ein Davonlaufen? Aber wovor denn? Ist eine Bestie hinter uns her, die die Nachzügler verschlingt?

Oh nein, noch schlimmer: Wir leben von diesem Spiel. Das Geld zum Leben kommt ja von den Sponsoren des Rennens, und diese verdienen es vor allem durch Wetten. Dort oben auf den Rängen des Stadions sitzen sie, feuern uns an und wetten nicht nur auf unsere Rundenzeiten sondern auch auf die Höhe der Wettquoten und Einsätze, ja zunehmend sogar auf noch höhere Derivate. Schon wird auf den Finanzmärkten fast hundertmal mehr Umsatz und entsprechend mehr Gewinn gemacht als im Welthandel mit realen Gütern. Kann dies den Läufern da unten aber nicht egal sein? Ist das nicht ein Nullsummen-Spiel, bei dem die Gewinne und Verluste der Wettenden sich schließlich ausgleichen?

Oh nein! Die Spielregeln sorgen ja fürs rapide Wachstum der gesamten Vermögen, und deren Eigentümer dürfen sich damit immer mehr von den Lebensgrundlagen aller aneignen, also immer neue Abhängigkeiten schaffen. Früher saß man auf den Rängen in nationalen Logen beisammen und jeder förderte sein eigenes Team in der Runde der Läufer; die Globalisierung hat das drastisch geändert. Unsere Sponsoren sind mittlerweile gar nicht mehr so sehr auf die Beschleunigungswerte des eigenen Teams angewiesen wie es ihre Anfeuerungsrufe vielleicht glauben machen sollen; kommt ein anderes Team nach vorne, so ist dies für die Vermehrung der Wettgelder ebenso recht. Immer schneller schwappen die Billionen durch die höchsten Ränge des Stadions – die globalen Finanzmärkte – täglich sind es bereits Hunderte von Mark pro Erdbewohner. Wenn aber dabei genug für unser täglich Brot abfallen soll, müssen wir dringend weitere Sponsoren finden, d. h. für fremde Investoren reizvoller werden. Immer mehr Läufer sind es ja geworden, doch immer weniger Sponsoren auf den Rängen, schon weil diese immer dicker werden. Wie sollen wir „Erwachsenen“ in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Belohnung der Geldgeber mithalten, wenn doch die „Jüngsten“ im Rennen geradezu unmenschliche Kunststückchen bieten? – Aber warum lassen wir es zu, daß die paar Leute auf den Rängen sich alle unsere Lebensgrundlagen aneignen, noch dazu mit leistungslosen Einkommen aus Wettgewinnen? Wollen wir nicht das Rennen absagen und uns daran machen, das Stadion in einen Garten zu verwandeln? – Ach so, das geht ja nicht, wegen der Besitzstände. Es gehört längst alles den Sponsoren. –

Eben hatten wir Deutschen in einer noch atavistischeren Form der Konkurrenz die gemeinsten Verbrechen der letzten Jahrtausende organisiert und wieder einmal alles kaputtgeschlagen; als Nebenwirkung der fünfzig Jahre des Wiederaufbaus entstanden phantastische Vermögen, größer als je in unserer Geschichte – wenn auch nur ein Teil der vielen tausend Milliarden den Statistikern oder gar den Finanzämtern bekannt ist. Nun aber heißt es: Wir müssen sparen! Es ist kein Geld da! Ja, wo ist es denn eigentlich?

An der Macht ist es. Und so dient es nicht seinem eigentlichen Zweck, den Austausch von Gütern und Dienstleistungen zu erleichtern – das lohnt sich kaum. Was sich lohnt ist das Haben – sofern die geistige Leistung hinzukommt, die Mehrheit im Aberglauben zu erhalten, es sei quasi naturgesetzlich, daß man Arbeit und Lebenssinn nur finden kann, wenn man mithilft, jenes Eigentum weiter anwachsen zu lassen. So fallen täglich – täglich! – zwischen ein und zwei Milliarden Mark Erträge auf deutsche Vermögen an! Gibt es etwa eine Chance gegen die Macht der Vermögen? – Offensichtlich gehört auch dieser Besitzstand auf den Prüfstand! Die Freiheit des Geldes und Eigentums ist es, die heute zunehmend alle wesentlicheren menschlichen Freiheiten fesselt. Man nennt das verschämt natürlichen Strukturwandel! Aber es ist nicht ein Naturgesetz, das uns diese Fesseln anlegt; sie liegen letztlich allein in den Köpfen, in den Knoten lebensunfähig gewordener Leitideen, in falschen Begriffen. Wenn die Mehrheit das begreift, wird sie die Fesseln abstreifen.

Gegen die Macht aufstehen können freilich nur jene, die nicht alle Kraft zum Ringen um die bloße Existenz brauchen und die doch noch was anderes im Kopf und im Herzen haben als die Gier, selbst zu den Mächtigen zu gehören. Noch sind das bei uns viele, und immer mehr von ihnen beginnen sich der Schlagworte der Anführer zu schämen, weil deren innere Widersprüche und Machtansprüche so schamlos offensichtlich wurden. Ist es vorstellbar, daß genügend viele ihre Fähigkeiten nicht zum Gebrauch der Ellbogen einsetzen wollen, sondern zum Mittragen des Ganzen? Dann könnte sich schnell eine neue Meinungsführerschaft ergeben, und ein Wettlauf nach lebensfähigeren gesellschaftlichen Leitbildern könnte einsetzen. Hier ist die Front, an der wir eine Spitzenposition einnehmen sollten! Dazu verpflichten uns Europäer das Verursacherprinzip und unsere freiheitliche Verfassung. Nur in den reichen Ländern ist der Wandel ohne Gewalt möglich – allein durch die Ausbreitung gesunden Menschenverstandes, den auch die Medien der Mächtigen nicht ganz zum Schweigen bringen können.

Weil es immer weniger sind, die fast alles besitzen, wird das angeblich so unpopuläre Rütteln an Besitzständen populär werden und hoffentlich auf dem ganz normalen Wege demokratischer Gesetzgebung zu fundamentalem Wandel führen.

Es ist wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Die Ideen des Liberalismus waren einst der geschichtlichen Situation angemessen und durchaus kleidsam. Der Neoliberalismus aber ist der letzte Versuch, die absurd gewordene nackte Macht des Geldes mit Ideologie zu verbrämen. Seine Verkünder werden sich verschämt verkriechen, wenn Kinderfragen laut werden und in Parteiprogramme und Wahlergebnisse eingehen. Und die Professoren werden sagen, sie hätten schon immer die Nacktheit erkannt und nur nichts sagen wollen, weil es sich nicht ziemte. Schon höre ich die Kinderfragen; mitten in eine Ministerrede über den notwendigen Subventionsabbau und die Verhinderung des Sozialhilfe-Mißbrauchs platzen sie herein: Müßtet ihr nicht vor allem aufhören, das Kapital zu subventionieren? Macht nicht diese Sozialhilfe für die wenigen Reichen zehnmal mehr aus als die Sozialhilfe für die vielen Armen? – Da sind wohl jene Milliarden gemeint, die den Besitzenden täglich als Vermögenserträge zugeschoben werden. Nun ja, wie soll ein Kind das Eigentumsrecht und die Berechtigung leistungsloser Einkommen aus Zins und Zinseszins verstehen?









III. Der Siebte Tag






Guten Abend!

Gestern habe ich versucht, den Wirrwarr in unseren Köpfen darzustellen. Bei dieser etwas zu satirischen Darstellung ging es darum, anhand der aktuellen Diskussion über den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und die wirtschaftlichen Probleme mit Wachstum, Arbeit und Geld die tiefen inneren Widersprüche in den modernen Leitlinien der Menschheit erkennbar zu machen. Mit der vorgestern skizzierten Einsicht in das Wesen der globalen Beschleunigungskrise leuchtet die Lebensunfähigkeit der modernen Gesellschaft unmittelbar ein. Bevor aber nicht auch ganz praktisch wahrgenommen wird, wie absurd die eben noch gängigen Leitideen geworden sind, wird die Mehrheit sie nicht verlassen wollen. Welche anderen, lebensfähigeren Ideen dann vielleicht zu verfolgen wären will ich heute in einigen Details andeuten. Wenn solche nicht längst greifbar nahe lägen müßten wir ja wohl in Panik geraten und im Raum der Möglichkeiten um uns schlagen mit verschwindender Wahrscheinlichkeit, dabei in der Fülle der Vorschläge und im Geprassel der Zufälle doch wieder einen Weg nach „oben“ zu finden.

Lassen Sie mich deshalb zunächst kurz an das erinnern, was ich vorgestern über das Schöpfungsprinzip und die globale Beschleunigungskrise sagte. Ich habe gefragt, ob im modernen wissenschaftlichen Weltbild zu verstehen ist, wie aus dem simplen Anfangszustand des Urknalls heraus ein Weg bis zu uns zu finden war. In der ungeheuren Menge verschiedener Möglichkeiten ist doch die jetzige Wirklichkeit und auch schon die der Erde vor Milliarden Jahren derart unwahrscheinlich, daß es naheliegt, einen zielgerichteten Willen zu vermuten. Ich habe dagegen klarzumachen versucht, daß eben wegen der Unermeßlichkeit des Reiches der Möglichkeiten gezielte Planung ausgeschlossen war und ist. Selbst wenn alle Materie unseres Universums in einem raffinierten Großcomputer organisiert wäre und dieser so viele Weltalter lang rechnete wie dieses Weltalter in Sekunden dauert, könnte er noch nicht einmal die Menge der verschiedenen Beziehungsmuster zwischen 24 Punkten durchzählen; das haben wir gesehen: diese Anzahl ist schon größer als die Zahl der Atome im beobachteten Weltall. Es zeigte sich: Der Aufstieg zu höherer Komplexität ist vielmehr gerade dem Zufall zu verdanken. Pointiert gesagt: Der Zufall ist die einzige Notwendigkeit im Schöpfungsprozeß. Schon die physikalischen Grundgesetze erzwingen das unablässige zufällige Gezappel der jeweiligen Wirklichkeit. Und so muß das Wirklichgewordene ständig benachbarte Möglichkeiten abtasten. Es ist logische Selbstverständlichkeit, daß dabei dort verweilt wird, wo das Verweilen wahrscheinlicher ist. Im Prozeß des zufälligen Tastens gilt also, wie wir sahen: Wahrscheinlich überlebt Überlebensfähigeres. Oder noch krasser tautologisch: Wahrscheinlich geschieht Wahrscheinlicheres. Daß dabei wir gefunden werden konnten, heißt natürlich, daß wir im Reich der Möglichkeiten vorhanden sind. Das „Diesseits“, wie wir die Wirklichkeit auch nennen, ist gewissermaßen nur eine Linie in diesem praktisch unendlich-dimensionalen Raum der Möglichkeiten; das vordere Ende dieser Linie, die jeweilige momentane Gegenwart, zappelt zwischen benachbarten Gestalten herum und kommt dabei auch in die Nähe von solchen, deren Einzugsbereich durch das weitere Zappeln nicht so leicht wieder verlassen wird. Diese Attraktoren sind natürlich zyklischer Natur. Sonst könnte es ja nicht am Ende eines Schöpfungstages heißen: Siehe da, es war sehr gut. Durchs lange Tasten und Kneten sind all die verschiedenen Zyklen gut aufeinander eingespielt, es paßt alles auf lebensfähige Weise zusammen. Nichts anderes bedeutet ja das Wort Komplexität, wie wir sahen – vom lateinischen plectere, flechten.

Wir haben aber auch gesehen, warum es trotz dieses Eindrucks von Gelungenheit immer wieder einen nächsten Schöpfungstag gibt. Das Gezappel muß ja weitergehen. Zwar kann die Wirklichkeit mit den bisher vorherrschenden Wechselwirkungen wahrscheinlich keine komplexeren zuverlässigen Attraktoren mehr finden, aber mit schwächeren Wechselwirkungen, mit vorsichtigerem Tasten sind immer wieder noch raffiniertere übergeordnete Gestalten zu erreichen, in denen die zuvor gefundenen auf lebensfähige Weise miteinander verflochten sind. Gleich nach dem Urknall fand unser Kosmos im allgemeinen Gezappel überall die dauerhaften Elementarteilchen, bald auch die langlebigen astrophysikalichen Gestalten der Milchstraßensysteme und Sterne, in diesen die vielen möglichen stabilen Atomkerne, in kosmischen Gas- und Staubwolken und auf der Oberfläche junger Planeten eine Auswahl schon ziemlich komplexer chemischer Verbindungen, wenigstens auf unserem Planeten einen raffinierten Zyklus gegenseitiger Katalyse von Eiweißen und Nukleinsäuren – das Leben, das dann in vier Milliarden Jahren im gemeinsamen Zappeln mit der gesamten Erdoberfläche die heutige Gestalt der Biosphäre findet. Gaia nennt man sie gerne wieder mit dem griechischen Namen der Erdgöttin.

Zwar gab es gelegentlich kosmische Katastrophen, und dann mußten wohl oft die am höchsten spezialisierten Gestalten verlassen werden. Aber Gaia hatte Glück: all zu tief reichten die Katastrophen nicht, und gerade sie sorgten wohl dafür, daß das Zappeln an der lebensfähig gebliebenen Basis sich verstärken mußte und damit neue Möglichkeiten erreichbar wurden – der Morgen eines neuen Schöpfungstages sozusagen.

Soweit also, in der Tat, alles sehr gut. Und dann – die bisher höchste Gestalt: der Mensch mit seinem Großhirn und seinen Händen. Und erst mit ihm, am sechsten Schöpfungstag, zeigt sich der Teufel. Im Schöpfungsprinzip ist logisch notwendig eine Krise eingebaut. Im evolutionären Auswahlprozeß haben die Fähigkeiten zu schnellerer Innovation und zu großräumigerer Organisation einen selektiven Vorteil: In einem räumlich hinreichend isolierten Bereich wie auf einem Planeten gibt es natürlich eine nicht überschreitbare Grenze der Größe, die Globalität. Aber auch die Innovationsgeschwindigkeit hat eine kritische Grenze: Wenn die führenden Gestalten schnell und global sich selbst und ihre Einbettung im Raum der Möglichkeiten verlassen, bevor sie auch nur einmal den eigenen Bewährungszyklus vollendet haben, dann ist nicht mehr der Aufstieg zu höherer Komplexität wahrscheinlich sondern der Absturz ins Chaos. Weil aber Größeres das Kleine verdrängt und Schnelleres das Langsamere müssen schließlich beide kritischen Grenzen erreicht werden. Diese systemtheoretisch unausweichliche Krise nannte ich die globale Beschleunigungskrise. Unsere Generation stellt ihren Höhepunkt dar – merkwürdiger Zufall, daß er ungefähr mit unserer Jahrtausendwende zusammenfällt.

Ich glaube, wir haben eine gute Chance den Übergang zum siebten Tag zu schaffen. Die Vorarbeit einiger Jahrtausende der Kulturentwicklung hat genügend lebensfähige Ideen sichtbar werden lassen; daß sie vor Erreichen des Höhepunktes der Krise nicht für die Weltgesellschaft erreichbar waren, liegt in der Natur der Krise, schon wegen der selektiven Vorteile des Großen und Schnellen. Aber das Voranstürmen zum Höhepunkt war nur durch höchste menschliche Bewußtseinsleistungen organisierbar, durch Wissenschaft und Technik, nicht etwa durch die biologischen Gegebenheiten und die mit ihnen ererbten Verhaltensweisen. Zwar werden diese psychologischen Gegebenheiten in der Organisation des zunächst militärischen, dann wissenschaftlich-wirtschaftlichen Wettlaufs zum Abgrund benutzt, vor allem durch Nutzung der sogenannten Medienmacht. Anders könnte ja die Mehrheit nicht mitgezogen werden. Aber die Führung liegt eben letztlich doch immer im Denken. Wir müssen uns das immer wieder sagen: Erst mit dem wissenschaftlich-technischen Denken konnte die globale Beschleunigungskrise manifest werden. Auf dem gleichen Bewußtseinsniveau läßt sich das Wesen der Krise verstehen. Und aus dieser Einsicht folgt unmittelbar, was zu tun bleibt: Die Menschheit muß nun aus der Einsicht ins Wesen der immer sichtbarer werdenden Krise eine Verfassung finden, in der die Organisation im Großen und die schnellere technische Innovation eben keinen selektiven Vorteil haben.

Natürlich ist nicht nur das Schlechte, das Bedrohliche am jetzigen Zustand der Gesellschaft diesen selektiven Vorteilen zuzuschreiben, sondern auch Gutes, das Hoffnung macht. Am wichtigsten: Nur wegen der schnellen weltweiten Kommunikation ist überhaupt vorstellbar, daß innerhalb eines Menschenalters die Einsicht ins Wesen der Krise weltweit verbreitet wird und das Denken der Mehrheit bestimmt. Und nur wegen des Erreichens der Globalisierung ist es ja möglich geworden an einer „Weltverfassung“ praktisch zu arbeiten. Es geht ja vor allem um die sogenannte Eroberung von Märkten. Vielleicht ist es mir gestern gelungen, die Absurdität dieses zunächst in den führenden Ländern und dann weltweit organisierten Wettlaufs um die Aneignung von Lebensgrundlagen anderer deutlich zu machen. Heute muß ich nun noch skizzieren, wie wir denn zuhause und schließlich auch weltweit aus diesem Wettlauf aussteigen können. Dabei ist wieder die Frage hilfreich, die der Bundespräsident in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Debatten gerückt sehen möchte: Was wollen wir eigentlich?

Nach einigen Jahrtausenden des Suchens nach Antwort können wir wohl sagen: Wir wollen nicht nur selbst glücklich sein, lieben, uns freuen – an der Schönheit der Welt und an fröhlichen Kindern, nein, wir wollen dies für alle Menschen. Was heißt denn jenes Alle Menschen sind vor Gott gleich? Jeder Mensch soll frei sein, sich an der Front seiner inneren Möglichkeiten zu entfalten; kein anderer soll die Macht haben, ihn dabei zu behindern.

Sicherlich, in den Jahrmillionen der Menschwerdung und in Jahrtausenden der Kulturentwicklung konnte das nicht so sein. Immer wieder mußte um biologische und soziale Lebensgrundlagen mit anderen gerungen werden. Aber es ist ein Irrtum, dies für naturgesetzlich notwendig zu halten, wie es die meisten Gesellschaftswissenschaftler und vor allem die Ökonomen noch immer tun. Oft berufen sie sich dabei auf Darwin und den unvermeidlichen Kampf ums Dasein. Aber das ist ein simples Mißverständnis des Evolutionsprinzips. Natürlich konkurrieren die verschiedenen Fasern der Wirklichkeit miteinander um bessere Annäherung an die jeweilgen attraktiven Leitideen. Aber die Front dieser Konkurrenz wandert von Tag zu Tag in neue Reiche der Ideenwelt. Wir haben doch gesehen: Der Aufstieg gelingt nur durch Beschränkung des Gezappels in den gelungenen Gestalten, also durch die Beschränkung auf schwächere Wechselwirkungen. Zum Beispiel findet beim Tasten nach chemischen Möglichkeiten auf der frühen Erde die wesentliche Konkurrenz nicht im Einzugsbereich der gelungenen Gestalten von Elementarteilchen und Atomen statt, sondern durch deren Wechselwirkungen mit viel schwächeren Kräften. Und im Aufstieg des Lebendigen wurde nicht mehr um verschiedene genetische Codes oder verschiedene Grundprinzipien lebender Zellen konkurriert. Es war ja schon alles „sehr gut“. Und mit schwächeren Wechselwirkungen ging es weiter „aufwärts“.

Das Ringen der Menschen um ihre Lebensgrundlagen gehört noch immer zum sechsten Tag. Der Übergang zum siebten geschieht nicht mit einem Ruck – Verzeihung, Herr Präsident! – sondern in einer Epoche der Dämmerung. Wenn wir nun einsehen, daß dank der Arbeit des sechsten Tages bald wenige Prozent der Menschen die lebensnotwendigen Güter für alle anderen produzieren können, dann dämmert uns, daß es Zeit ist, Konkurrenz um die Lebensgrundlagen verfassungsmäßig zu beenden. Wir haben ja gesehen: Sogar Liberalen dämmert das schon. Als biologisches Wesen konnte der Mensch das nicht. Aber mit Hilfe des bewußten Denkens kann er es organisieren. Nur er kann es! Natürlich, wir erkennen ja nun den ganzen Schöpfungsprozeß als Selbstorganisation. Und nun geht es um die Selbstorganisation der menschlichen Freiheit.

Versuchen wir also, uns eine Gesellschaft vorzustellen, in der die Menschen nicht um ihre materiellen und gesellschaftlichen Lebensgrundlagen konkurrieren müssen. Offenbar müßte die Wirtschaftsleistung gerechter verteilt werden ohne daß dadurch die Freiheit und der Anreiz zu vernünftigem wirtschaftlichen Handeln verloren ginge. Manche sagen das ginge ja nicht, das habe ja der Untergang des sogenannten Sozialismus eben erst gezeigt. Aber wenn doch der sogenannte Kapitalismus ebenfalls unterzugehen droht und dies gar noch den Untergang der Biosphäre heraufbeschwört, lohnt es sich wohl doch, nach anderen Möglichkeiten Ausschau zu halten – es muß doch wohl mehr als zwei geben im unermeßlichen Reich der Möglichkeiten! – Lassen Sie mich rasch ein paar Vorschläge beisteuern.

Apropos Steuern! Die neue Gesellschaft braucht ja offensichtlich Geld, um die wichtigsten Gemeinschaftsaufgaben zu erfüllen. Die wesentlichen Bedürfnisse aller Kinder und Alten und Kranken sollen solidarisch finanziert werden, Und damit ist nicht nur das tägliche Brot und ein Dach überm Kopf gemeint. Wahrscheinlich wird sogar jedermann Anspruch auf ein Bürgergeld haben, das sein Existenzminimum deckt. Stellen wir uns das in Zahlen vor: Das gesamte jährliche Steueraufkommen für Bund, Länder, Gemeinden und Europa beträgt in unserem Land zur Zeit grob 800 Milliarden Mark. Wenn jeder Einwohner monatlich 1000 Mark als Bürgergeld bekäme, so läge die Jahressumme hierfür bereits etwas über dieser Steuerleistung, nämlich bei etwa 1000 Milliarden, einer Billion. Daneben erbringt freilich die Gesellschaft noch erhebliche andere Leistungen wie die Ausgaben für Rentenversicherung, Kranken- und Arbeitslosenversicherung und ähnliches. Auch diese Leistungen erreichen insgesamt schon fast die Größenordnung der gesamten Steuern. Und ein beträchtlicher Teil der Steuern dient ja heute der Subventionierung spezieller Teile der Gesellschaft. Bei der Zahlung eines Bürgergeldes würden die meisten dieser Subventionen wegfallen. Dennoch sieht es doch nun so aus, als könnten wir uns ein Bürgergeld für alle – zudem noch in erhöhtem Maße für Erziehung und Ausbildung, für Alter und Krankheit – nicht leisten.

Allerdings haben wir bei dieser Abschätzung etwas ganz wesentliches vergessen. Gestern war davon die Rede: es sind die heutigen leistungslosen Einkommen. Ich meine nicht die Sozialhilfe – die wird ja aus Steuern bezahlt, etwa 50 Milliarden jährlich – ich meine die Subventionierung des Kapitals, was ich die „Sozialhilfe für die Reichen“ nannte. Diese erreicht ebenfalls die Größenordnung des gesamten Steueraufkommens. Die genauen Zahlen sind gar nicht so leicht zu ermitteln – man redet nicht gern davon; es ist ja auch peinlich, sich als „Sozialhilfe-Empfänger“ zu outen. Die gesamte Leistung für die sogenannte Kapitalbedienung liegt aber irgendwo zwischen täglich ein und zwei Milliarden Mark, wie ich sagte, täglich, wie gesagt.

Aber bleiben wir zunächst noch bei den Steuern. Heute sind lauter wünschenswerte Dinge durch Steuern belastet: das Einkommen aus Arbeit, der Kauf des Essens und der Kleidung für mich und meine Kinder, die Reparatur meiner Waschmaschine. Wie merkwürdig! Sollte man nicht lieber nur das besteuern, was schädlich ist? Also nicht etwas die wirkliche Wertschöpfung, sondern vielmehr die Zerstörung von Werten? Minderwertsteuer statt Mehrwertsteuer habe ich das genannt. Nun ist das ja schon der Kern der Ökosteuer-Diskussion. Warum formiert sich da so wütender Widerstand? Die meisten Bürger lassen sich offenbar einreden, mit diesem Konzept würden sie verlieren. Schauen wir also wieder eine Zahl an. Wenigstens eine Aktivität der gesamten Gesellschaft ist ja mittlerweile ganz allgemein als schädlich erkannt: die Verbrennung fossiler Energieträger – Kohle, Öl und Gas. Jeder Deutsche setzt heute täglich die Hälfte seines eigenen Körpergewichtes an Kohlendioxidgas in die Atmosphäre frei durch seine Teilnahme an der sogenannten Zivilisation. Beim Amerikaner ist es sogar das ganze Körpergewicht. Die Folgen haben wir gesehen, z. B. die drohende Klimaveränderung. Also wäre es wohl sinnvoll, die Verschwendung an Energie zurückzudrängen und zugleich die Alternativen zu entwickeln. Stellen wir uns also einmal vor, wir wollten alle heutigen Steuern, jene jährlich 800 Milliarden Mark, abschaffen und sie allein durch eine Steuer auf Energie ersetzen – natürlich nicht über Nacht, aber in einem vernünftigen Übergangszeitraum. Wie hoch wäre diese Steuer, die alle anderen Steuern ersetzen würde? Das gesamte deutsche Steueraufkommen ergäbe sich, wenn wir auf jede Kilowattstunde Primärenergie 22 Pfennig legten; eine Kilowattstunde elektrischen Stroms enthält drei Kilowattstunden Primärenergie, also bedeutete das eine Steuer von etwa 65 Pfennig auf die elektrische Kilowattstunde. Und ein Liter Öl enthält ungefähr zehn oder elf Kilowattstunden Primärenergie, also: der Liter Öl würde besteuert mit ungefähr 2,50 Mark. So schrecklich klingt das gar nicht, nicht wahr, wenn wir uns vorstellen, daß alle anderen Steuern fort sind! Mir scheint fast, wir könnten das Steueraufkommen zur Eindämmung des wahnsinnigen Verhaltens beim Energieverbrauch sogar noch höher ansetzen.

Natürlich würde der Energieverbrauch dann rasch abnehmen, und man müßte allmählich den Steuersatz pro Kilowattstunde anwachsen lassen. Dann wäre in einigen Jahrzehnten die fossile Verbrennung überhaupt kein Problem mehr, weil der gesamte Energieverbrauch aus unschädlicher Sonnenenergie käme und die Kernenergie längst aufgegeben wäre, und woher sollten dann noch Steuern kommen? Aber die Verbrennung fossiler Energieträger ist nicht etwa der einzige Zerstörungsprozeß, dem wir uns hingeben. Es gibt ja so viele andere schädliche Produkte und Prozesse. Denken Sie nur an die Vergeudung von Wasser! Warum könnten wir nicht die Entnahme von Frischwasser besteuern? Die Entnahme von Rohstoffen aus der Erde, die dann fein zerstäubt in die Biosphäre freigesetzt werden, wie z. B. die Schwermetalle? Oder die neu produzierten Moleküle – denken Sie an die Chlorchemie – und die vielen anderen Gifte? Oder gar die künstlichen Organismen, die nun geplant sind? Da wären vernünftige Steuerquellen! Zivilisation erzeugt immer Entropie, wie wir das nennen. Also sollten wir es vielleicht gar nicht Minderwertsteuer nennen sondern Entropiesteuer.

Nun, wer sollte so etwas organisieren wenn nicht wir alle gemeinsam, also der Staat? Es wird uns immer gesagt, wir bräuchten weniger Staat. Ja, aber doch nur dort, wo er die Freiheit zu Gutem und Vernünftigem beschneidet. Dort, wo er das insgesamt Schädliche behindern kann, brauchen wir mehr Staat!

Und deshalb ist auch noch eine weitere Steuer notwendig. Wir haben doch gesehen, daß wir die Kräfte, die in die globale Beschleunigungskrise treiben, an der Wurzel behindern sollten. Wir möchten doch den selektiven Vorteil des Großen und Schnellen beseitigen. Kann man den auch weg-steuern? Können wir über eine Größenbegrenzungssteuer nachdenken? Ist es vorstellbar, daß z. B. das Eigentum an Lebensgrundlagen beschränkt wird, durch Steuern, so daß es sich nicht lohnt, sich die Lebensgrundlagen anderer anzueignen, sehr wohl aber die eigenen? Dazu kommt natürlich noch, daß das gesamte Geld- und Eigentumsrecht geändert werden muß, daß dies einer Zweidrittel-Mehrheit bedarf – wir können das also nicht in wenigen Legislaturperioden erwarten, daß wir durch Gesetze solche neuen Regelungen einführen. Aber wir müssen doch darüber nachdenken!

Zum Beispiel auch über eine neue Geldordnung, in der eben nicht das Haben von Geld sich lohnt, in der nicht bei jeder Tätigkeit, die ein Mensch für einen anderen ausführt, bei einem völlig unbeteiligten ein Konto wächst. Über diese Dinge ist natürlich schon lange nachgedacht worden – seit Moses! Aber diese Diskussion ist heute aus der wissenschaftlichen Diskussion völlig verdrängt, weil dort eben, wie gesagt, die ideologische Vorstellung herrscht, das Wachstum von Vermögen sei naturgesetzlich notwendig. Ich glaube, wenn wir die Leistungen einer modernen Gesellschaft gerecht verteilen, dann entsteht sogar eine ganz ähnliche Art von wirtschaftlicher Freiheit, wie sie heute von den Wirtschaftsliberalen gefordert wird, nur eben im Kleinen. Wenn die große Vermögensbildung behindert ist und die kleine gefördert – die muß dann gar nicht gefördert werden, die entsteht dann von selbst – dann entsteht die Vielfalt von kleinen und mittleren Unternehmen, die es wahrscheinlich macht, daß Besseres gefunden wird.

Der Mensch ist ungeduldig. Auch die weise gewordenen schweifen doch gelegentlich mit ihren Gedanken und Wünschen in Welten, die sie nichts angehen. Der Bereich der geistigen Welt, der mit der Entwicklung des Menschen und seiner Kulturen zugänglich wurde, ist ja weit größer als die Reiche aller früher gefundenen Gestalten einschließlich des Reichtums der Biosphäre. Und ein Mensch kann in Träumen und Gedanken – und dann natürlich auch in Büchern – schnell vorankommen. Das Erreichen und Überschreiten der kritischen Innovationsgeschwindigkeit an dieser Front im Raum der Möglichkeiten gehört ja sozusagen zur Natur des Menschen. Nach der Wiedervereinigung von Geist und Materie im Weltbild, das ich in diesen Vorträgen skizziert habe, ist ja auch das Reich menschlichen Seelenlebens und bewußten Denkens, die Noosphäre, ein Teil der Natur. Nur an dieser neuen Front aber ist rasche Innovation ohne Gefahr fürs Ganze möglich und selbst fürs Individuum bekanntlich nicht mit weit überkritischer Geschwindigkeit; hier nennt man das Ergebnis übertriebener Geschwindigkeit Irresein. Natürlich darf der Mensch auch vom achten Schöpfungstag träumen oder über ihn spekulieren, und über alle möglichen weiteren bis in unendliche Zeit, oder bis zum Weltende vielleicht, zum Ende der Zeit und der Wirklichkeit, da ist ein weites Feld für Science-fiction- und Social-fiction-Autoren, sogar für esoterisch angehauchte Physiker, und natürlich für Theologen. Aber über die gegenwärtige Krise kann uns das gedankliche Tasten an Möglichkeiten zukünftiger Schöpfungstage nicht hinweghelfen. Die logische Struktur der globalen Beschleunigungskrise setzt ja, wie wir sahen, selbst die Zeitskala bis zum Aufprall im Chaos. Die Entscheidung, ob wir untergehen, ob also die Front der irdischen Entwicklung nun abstürzt und dabei sogar noch die oberen Stockwerke der Biosphäre mit einreißt, oder ob die Selbstorganisation der menschlichen Freiheit gelingt und am Ende des siebten Tages wiederum stehen kann: Siehe, es war alles gut – diese Entscheidung wird im Denken und in der politischen Arbeit der heute lebenden Menschen getroffen.