Nun muß es schnell gehen. Die Zeit läuft ab. Aber worauf es ankommt, dürfte jetzt klar sein: Die wesentliche Front unseres Zappelns muß künftig in den seelisch-geistigen Fähigkeiten liegen – und hierzu müssen wir uns endlich befreien. Das bedeutet die Emanzipation von militärischer und wirtschaftlicher Macht, wie auch vom Aberglauben, die Wissenschaft könne und müsse an den Fronten früherer Schöpfungstage in Eile die Welt verbessern. Weil ich selbst Naturwissenschaftler bin, kann ich gerade am letzten Punkt nicht vorbeigehen: Die Biosphäre, unser Leib und unser Hirn sind "sehr gut"; daß die Menschennatur diese Wurzeln keineswegs zwangsläufig vernichtet, ist aus der Kulturgeschichte abzulesen. Nur muß nun die nächste große Kulturleistung gelingen, nämlich dem "Großen und Schnellen" verfassungsmäßige Schranken zu setzen. Innovation ist nur dort dringend, wo sie dazu beiträgt, die schlimmsten Sünden der letzten Jahrzehnte zu heilen. Wo weiteres "Durcheinanderwerfen" droht, muß die eilige, globale Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse behindert werden.
Dies ist für viele Wissenschaftler zunächst völlig unvorstellbar, weil ja gerade für sie selbst das Voranstürmen mittels "Schlüsseltechnologien und Durchbrüchen" zur Lebensgrundlage und zur Quelle hohen gesellschaftlichen Ansehens geworden ist. So findet in der Wissenschaft eine Auslese gegen die Vernunft statt: Wer Bedenken hat, scheidet aus – und das Rennen geht beschleunigt weiter. Die Einsicht, daß wir – angesichts unserer Fähigkeit, völlig neue Bereiche des Raums der Möglichkeiten zu erobern – nicht nur fürs
Vorhersehbare, sondern sogar fürs Ungeahnte
verantwortlich sind, dämmert auch manchen Wissenschaftlern. Aber das hilft nichts, weil sofort skrupellosere an ihre Stelle treten werden, solange nicht gesellschaftliche Rahmenbedingungen dafür sorgen, daß kindischer Größenwahn nicht mit Ruhm und Geld belohnt wird.
Ist das zu abstrakt? Schauen wir Beispiele an: Selbstverständlich gibt es im Raum der Möglichkeiten praktisch unendlich viele chemische Verbindungen, die bisher auf der Erde, oder gar im ganzen Universum, nicht verwirklicht wurden – manche vielleicht in keinem einzigen Molekül. Und "es gibt" unermeßlich viele Genkombinationen, die vom Tasten des irdischen Lebens noch nie berührt wurden. Viele dieser Möglichkeiten scheinen dem Menschen Bequemlichkeit zu versprechen, also dem Produzenten Profit. Dann sind sie unter den gegenwärtigen Bedingungen attraktiv. Denken wir etwa an das Programm der "Chemieriesen"
Monsanto
oder
Farbwerke Hoechst, die Äcker der Welt mit ihren Totalherbiziden "round-up" oder "Bravo" zu überschütten, so daß nur noch genetisch manipulierte, mit entsprechenden Resistenzgenen versehene Kulturpflanzen gedeihen können. Welch phantastische Einkommensquelle und globale Macht für die share-holder und andere Geldgeber!
Weil von solchem Segen etwas auf die beteiligten Wissenschaftler abfiele, reden sich einige von diesen ein, die Sache werde wahrscheinlich gutgehen, wenn man nur guten Willens und mit Vorsicht an sie herangehe. Und natürlich kommen wahrscheinlich gerade jene an die Spitze entsprechender Forschungsinstitute und in Kommissionen zur "Folgenabschätzung" und zur Definition des "Standes von Wissenschaft und Technik". Letzterer ist ja entscheidend für's sogenannte Gewissen. Wenn nämlich nach Jahren oder Jahrzehnten die Folgen des "Durcheinanderwerfens" sichtbar werden, dann wird man sagen wollen: "Es war niemand schuld, denn nach dem damaligen Stand von Wissenschaft und Technik war eine solche Entwicklung nicht vorhersehbar."
Diese Ausrede ist schon bei der Meditation über 24 Punkte und ihre verschiedenen möglichen Strichverbindungen als Lüge oder als Zeichen von Schwachsinn zu erkennen. Nicht die geringste Hoffnung ist gerechtfertigt, daß das Fortschreiten auf dem mit chemischer und biologischer Großtechnik eingeschlagenen Wege gutgehen könnte. Mit ein wenig Nachdenken über das Wesen komplexer "Wertschöpfung" ist das so leicht einzusehen, daß diese Art des Fortschritts abgebrochen werden wird, sobald die Mehrheit ihre wirklichen Lebensgrundlagen von den heutigen Eigentümern oder Besetzern zurückerobert hat. Schon heute wären ja die dümmsten Fehlentwicklungen mit einem simplen Gesetz über langjährige Versicherungspflicht für etwaige Spätfolgen zu stoppen.
An dieser Stelle der Diskussion bringen interessierte Industrien und Wissenschaftler natürlich den "Mythos vom Hunger" ins Spiel: Wenn wir nicht risikofreudiger sind, hat die Menschheit keine Überlebenschance! Aber das ist längst widerlegt. Nicht nur die berüchtigten "grünen Spinner", sondern auch Forschergruppen der amerikanischen Akademie der Wissenschaften haben in detaillierten Studien gezeigt: Fast überall auf der Erde könnten die Menschen sich auch heute und morgen mit ziemlich altmodischer Landwirtschaft von Erträgen des eigenen Landes ernähren – wobei freilich auch vielfältige, lokal angepaßte Verbesserungen möglich sind, die keine Gefahren heraufbeschwören würden.
Die Siegesmeldungen von einer anderen Front, an der ständig Durchbrüche gefeiert werden, sind nicht weniger voreilig: Auch die Vorstellung, der Mensch gewinne wesentliches, wenn jeder mit jedem jederzeit "kommunizieren" oder über Datenautobahnen
gewaltige Datenmengen beziehen oder verteilen könnte, ist leicht als Wahn erkennbar. Kommunikation setzt Gemeinsamkeit voraus, doch diese wachst ähnlich langsam wie die Persönlichkeit selbst. Beim Versuch eiliger Erweiterung kann nur Einfalt entstehen. Die Überschwemmung mit sogenannter Information bedeutet vor allem "Innenweltverschmutzung". Datenübermittlung und Information sind nämlich ganz verschiedene Dinge – wie schon
Joseph Weizenbaum
oft betont hat. Information entsteht erst durch "Verarbeitung" – also das Abtasten und Bewerten der "Daten" im komplexen Zusammenhang. Der Versuch, diesen Prozeß im Menschen über das ihm evolutionär mitgegebene Maß hinaus wesentlich zu erweitern und zu beschleunigen, führt zwangsläufig zu seiner Degradierung und Simplifizierung – wie schon in der modernen Sprachentwicklung deutlich wird, die eng mit dem gesamten "Innenleben" gekoppelt ist.
Die Vision, nun werde eben der Computer weitgehend an die Stelle des Menschen treten, entspringt einem kindischen Mißverständnis darüber, was Komplexität bedeutet und wie sie entstehen und reproduziert werden kann. Wo die Simplifizierung und "Vermüllung" des Innenlebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen noch nicht zu weit fortgeschritten ist, da ist deshalb auch die Erfahrung durchaus lebendig, daß wir
die Krone der Schöpfung
sind – gerade wegen unserer nicht "wissenschaftlich faßbaren" Fähigkeiten, wie jener zu "Glaube, Hoffnung und Liebe". Der meiste Zivilisationsplunder ist dagegen läppisch – komplizierter Müll anstelle lebensfähiger Komplexität.
* * *
"Aber die Menschen wollen das nun einmal. Wir leben schließlich in einer Demokratie", heißt es dann. Hierzulande sollte wohl dieses Argument nicht mehr genügen, um die Suche nach lebensfähigeren Ideen zu verteufeln. Natürlich kommen große Instabilitäten genau dadurch zustande, daß sich ihnen die Mehrheit
anschließt. Am Höhepunkt der globalen Beschleunigungskrise ist es also eine triviale Selbstverständlichkeit, daß "die Mehrheit unrecht hat". Aber das ist nicht ein Fehler der Mehrheit, sondern der Anführer, die auf dem attraktiven "Weg zur Hölle" an die Spitze drängen. So kulturbedingt aller menschliche Geist ist, das
Fortschreiten
der Kultur geht von Individuen aus. Nur das geistige Zappeln einzelner am Rande des Heerzuges bietet eine Chance, bessere Ideen zu finden – die dann freilich auch für die Mehrheit attraktiv werden müssen.
Fast alle Menschen haben das Zeug, fröhlich zu sein, zu lieben und sich auch über das Glück ihrer Nächsten und aller Mitgeschöpfe zu freuen. Dies ist es, was ihnen am "siebten Tag" zusteht und was die Weisen meinten, wenn sie sagten, wir sollten "Gott loben". Der Drang zu Macht und Ausbeutung nimmt erst überhand, wenn die Freiräume für diese eigentlich menschlichsten Fähigkeiten verloren gehen – das ist unter den Bedingungen von Not und Unterdrückung. Dann setzt ein "Teufelskreis" ein – die abwärts führende Spirale der Konkurrenz um Lebensgrundlagen.
Wer nicht in der Spitzengruppe ist, geht unter
... – einst im bewaffneten, jetzt vor allem im wirtschaftlichen Eroberungskrieg.
Wir können nur überleben, wenn wir mit gezielten Exportoffensiven neue Märkte erobern und gegen die wachsende Konkurrenz verteidigen.
– Glauben Sie das?
Wie jahrhundertelang der Krieg um Territorien und Tributpflichtigkeit, sind auch Überbetonung und Mißbrauch von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik Teil des Teufelskreises: Weil "harmlosere" Lebensmöglichkeiten besetzt oder versperrt werden, geraten immer mehr Menschen auf die Straße dieses Fortschritts und sind dort noch leichter auszubeuten. Ein Ausweg aus der Spirale war vor dem Höhepunkt der globalen Beschleunigungskrise nicht zugänglich. Nun aber zeichnet sich ab, daß bei fortschreitender Aufklärung die Völker der Welt aus Einsicht ins Wesen der Krise gemeinsam eine Verfassung finden könnten, in der Krieg und Ausbeutung unerreichbar werden.
Kann sich der Mensch endlich von den Zwängen und Abhängigkeiten befreien, die ihn von dem abhalten, was er am siebten Tag tun kann, ohne die bisherige Schöpfung – einschließlich seiner selbst – zu gefährden? Die Frage spitzt sich heute auf einen "Knackpunkt" zu: Läßt sich auch die modernere Form der Sklaverei abschaffen – nämlich das Eigentum an den Lebensgrundlagen anderer? Kurz: Läßt sich die Marktwirtschaft vom Kapitalismus befreien?
* * *
Naheliegend ist das radikale Ausweichen mancher religiöser oder esoterischer Lehren: Weil unser eigentliches Wesen in unserer Spiritualität liegt, komme es auf so "weltliche" Dinge wie Politik gar nicht an. Warum also über die Gesellschaft nachdenken? Aber auch die "Materialisten" landen meist bei der Aussage, man müsse "dem Kaiser geben, was des Kaisers ist" – weil sie dazu neigen, diesen Zwang unerbittlichen Naturgesetzen zuzuschreiben. Resignation vor dem Wirrwarr politischer Ideen treibt auch Skeptiker in diese Richtung des laisser-faire, und sogar das Ideal der Jugend, die extreme Individualisierung (– freilich selbst ein intellektuelles Phänomen –) führt dorthin: Das beliebte: Was kann schon der einzelne tun?
ist sehr förderlich fürs "Teile und herrsche" der Mächtigen. Es dient der Unterdrückung besserer Ideen so gut wie das "Gott hat gesagt". Jetzt allerdings, angesichts immer absurderer Erscheinungen auf den sogenannten freien Märkten, beginnen die Stimmung und die veröffentlichte Meinung in die Gegenrichtung umzuschlagen. Sogar ein Wort dafür hat sich zur rechten Zeit eingestellt: Kommunitarismus. Man wagt wieder zu denken: Es gibt
so etwas wie gemeinsame Ziele und Aufgaben.
Lange hatte kaum jemand zu hoffen gewagt, daß eine Diskussion über fundamentale Mängel unserer Grundordnung bald wieder in Gang kommen könnte. Sogar das
Ende der Geschichte
wurde verkündet. Selbst Menschen, die den Untergang bei Fortsetzung der gegenwärtigen Trends klar vor sich sahen, glaubten nicht an die Möglichkeit, daß etwa die ökologischen Untergangssymptome die Menschheit noch rechtzeitig zur Umkehr bewegen und auf verläßlichere Wege bringen könnten. Der Soziologe
Ulrich Beck
meinte einmal, eine Revolution sei nicht zu erwarten, da es kein "Ökologisches Proletariat" gebe. Oh doch, das gibt es! Trotz Fernsehen und Bildungsbürokratie ist der menschliche Geist nicht ausgerottet, und er leidet! Weltweit begannen Denkende und Fühlende schon lange, sich als eine Art von Proletariat zu sehen, das sich gegen die Entrechtung und Ausbeutung durch globale Wirtschaftsmacht, pseudowissenschaftlichen Größenwahn und mediale Verblödung würde vereinigen müssen. Nun wird dieser Prozeß durch die wirtschaftlichen Absurditäten beschleunigt, weil sogar in den "führenden Ländern" bereits die Mehrheit von diesen betroffen ist.
Wenn die Mehrheit zu kippen beginnt, arbeiten natürlich die "Investoren" daran, die politischen Entscheidungen von gewählten Parlamenten auf erlesene Expertenkommissionen zu verlagern. Aber die Idee der Demokratie ist in den führenden Ländern noch verankert, und so besteht die Chance, daß die notwendige Revolution gewaltlos, allein durch Ausbreitung besserer Ideen und entsprechenden Bewußtseinswandel geschieht. Sichtbar werden wird dieser Prozeß, wie jeder phasenübergangsartige Selbstorganisationsprozeß, zunächst in Keimzellen. Noch ist auch Deutschland frei, zu einem solchen Ausgangspunkt globalen Wandels zu werden. Die geschichtlichen Voraussetzungen sind hier besser als an vielen anderen Stellen. Vielleicht aber wird das Umkippen der öffentlichen Meinung sogar in ganz Europa fast gleichzeitig einsetzen.
* * *
Warum sollte die Abschaffung des militärischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Imperialismus, sozusagen der Friede des siebten Tages, jetzt erreichbar werden, wenn doch seit Jahrtausenden jeder Versuch, ihn irgendwo zu sichern, mit Gewalt hinweggefegt wurde? Fromme oder aufgeklärte Prediger konnten trotz starker gesellschaftlicher Bewegungen wenig bewirken, weil der selektive Vorteil des Großen und Schnellen nicht durch lokale Organisation zu beseitigen war. Immanuel Kants Schau eines dauerhaften Friedens etwa war gesellschaftlich bisher so wenig verwirklichbar wie Jesu Rat, dem Angreifer die andere Wange hinzuhalten. Wer nicht kämpfte, ging unter. Erst die schnelle globale Wechselwirkung am Höhepunkt der Krise schafft nun auch die Mittel zu deren Überwindung. Da helfen also sogar die Datenautobahnen
mit. Binnen einer Generation wird die Mehrheit überall erkennen, warum es mit Menschheit und Biosphäre abwärts geht – und wie der Absturz doch noch zu verhindern ist. Erst jetzt kann mit dem Willen auch Handlungsfähigkeit erwachsen.
Innerer Widerstand gegen zerstörerische Macht regt sich oft zunächst in Frauen. Natürlich schallt heute sogar angesehenen Frauen wie Viviane Forrester oder Marion Dönhoff, die ihre Stimme gegen die "Unmoral" des Kapitalismus erheben, sogleich entgegen: Deine Skrupel und dein Gerechtigkeitsgefühl in Ehren – aber du verstehst eben nichts von der Wirtschaft! Du lebst in einer Traumwelt – wie vor hundert Jahren Bertha von Suttner mit ihrem Ruf
Die Waffen nieder!
... sie verstand eben nichts von Strategie und Taktik der Kriegskunst. Aber siehe da: Je näher die Wirklichkeit an die Abgründe rückt, um so näher kommt sie auch jener "Traumwelt". An gemeinsamer Abschaffung des Krieges wird immerhin schon ein bißchen gearbeitet – und auch das Ende der Ausbeutung wird praktisch vorstellbar. Wo der Wille einer Mehrheit hierfür Institutionen schaffen und sichern könnte, da beginnt das Gerede von der Utopie plötzlich zu klingen, als werfe man einem Vegetarier vor:
Du verstehst eben nichts von fachgerechter Metzgerei.
* * *
Vegetarier zu werden ist nicht schwer, da die meisten Fleischfresser keine Vegetarier fressen. Dagegen erfordert der Übergang zur pazifistischen Weltgesellschaft natürlich Institutionen gegen Aggressoren. Wie die Arbeit hieran von Keimzellen ausgehen könnte, in denen die nationale Rüstung zunächst auf "strukturelle Nichtangriffsfähigkeit" gegenüber den Nachbarn umgestellt wird, ist schon vielfach bedacht worden. Übernahme solcher Konzepte in Zusammenarbeit größerer Regionen wird schließlich zu einer Welt relativ kleiner Nationen führen, die alle gemeinsam ihren unabhängigen Bestand garantieren und durch regionale und weltweite "Einsatztruppen" jegliche Machtübernahme von außen oder innen verhindern. Nationale Streitkräfte wird es dann so wenig geben, wie es bei uns Maschinengewehre für den Schutz des eigenen Gartens gibt.
Die politische Verfassung derart weiterentwickelter Vereinter Nationen
wird den Weltfrieden sichern und auch die innere politische Entartung der Mitglieder verhindern. Die Weltverfassung wird also auch einzelnen und Gruppen gewisse Grundrechte garantieren – wie die Menschenrechte und einige Minimalregeln zur Sicherung dezentraler Demokratie. Darüber hinaus aber wird die Vereinheitlichung nicht wachsen, sondern wieder abnehmen. Große Länder werden wieder mehr föderale Strukturen entwickeln, vor allem auch dort, wo ohnehin noch ethnische und sprachliche Eigenheiten lebendig sind oder wiederbelebt werden können. Wo Macht über Nachbarn oder eigene Minderheiten verfassungsmäßig ausgeschlossen ist, erlischt zwar die Konkurrenz um Macht, aber nicht etwa der Drang nach Abgrenzung. Auch in Familien geht es doch nicht darum, etwa sämtliche Individuen zu einem einzigen Organismus zu verschmelzen. Die Vielfalt ist ja, wie wir sahen, schon systemtheoretisch gesehen Grundvoraussetzung allen evolutionären Fortschritts. Und gesunder Nationalstolz ist keineswegs etwas unerfreuliches, wenn er sich nicht gegen andere richten kann – und wenn er, wie der Stolz des seelisch gesunden Individuums, im rechten Gleichgewicht mit angemessener Scham steht.
Die Idee einer "multikulturellen globalen Einheitsgesellschaft" ist ein Widerspruch in sich. Kultur entsteht und bewahrt sich gerade durch Abgrenzung. Richtig: Ihr allmählicher Fortschritt geschieht vor allem durch die Wechselwirkung mit anderen entlang den Grenzen und in gewissen regionalen Zentren, in denen sich Kulturen begegnen und auch ein wenig mischen. Aber diese Vermischung muß aufs Ganze gesehen langsam im Vergleich zum Menschenleben geschehen. Daraus folgen zum Beispiel allgemeine Verfassungsregeln für die nationale Einwanderungspolitik der Mitglieder einer künftigen Weltgesellschaft. Es gehört zu den wesentlichen Bildungszielen des kommenden Jahrhunderts, bezüglich solcher Fragen das ideologische Chaos in den Köpfen durch ein logisches Fundament zu ersetzen. Wie bei allen kritischen Fragen unserer Zeit geht es hier nicht um "Meinungsstreit" angesichts einer Menge beliebiger Möglichkeiten, sondern ums Tasten nach Leitideen, die zunächst wenigstens die
logischen
Voraussetzungen von Lebensfähigkeit erfüllen.
* * *
Es mag zunächst lächerlich erscheinen, wenn ich behaupte, aus allgemeinen Gedanken über "Schöpfungsprinzip und globale Beschleunigungskrise", folge auch etwas über die Wirtschaftsordnung, über das Geld- und Eigentumsrecht, das Steuer- und Rentensystem und sogar über das Bildungswesen des 21. Jahrhunderts. Zumal wenn doch, was daraus folgte, so offensichtlich den herrschenden Gewohnheiten und Sachzwängen zuwiderliefe. Aber was sagt uns die Logik, wenn wir auf einem immer steiler werdenden Hang auf einen Abgrund zu ins Rennen geraten sind? Immer regelmäßiger, immer schneller die Beine bewegen, um nicht ins Stolpern zu kommen? Welch ein Glück, wenn wir doch noch rechtzeitig stolpern und auf die Nase fallen! Gott sei Dank – die sogenannte Wirtschaft und die Finanzpolitik scheinen das nun für uns zu leisten, und noch finden sich ringsherum Wurzeln, an denen wir uns festklammern können. Rettende Ideen sind ganz nahe – und zwar nicht in den Köpfen weltfremder oder gewaltbereiter Spinner, sondern im Kern der Programme aller unserer politischen Parteien. Deshalb dürfen wir wohl selbst am Rande des Abgrunds guten Mutes sein, daß wir wieder werden hochklettern können.
Praktische politische Arbeit setzt die Kenntnis einer Farbenlehre voraus. Schauen wir also das Parteienspektrum an.
— Was ist der Kern der roten
Ideen? Daß alle Menschen von Unterdrückung durch andere frei sein sollen; daß auch das Herausragen – durch Willenskraft, in geistigen Fähigkeiten, oder gar mit den Ellenbogen – kein Recht zur Versklavung und Ausbeutung anderer verschafft; daß aber die Befreiung nicht durch den Kampf einzelner, sondern durch Solidarität gewonnen werden muß.
— Näher zur Mitte des Spektrums hin wird das
Rot
zu
Orange, und dieses geht ins Gelbe
über. Was ist der Kern der
gelben
Ideen? Die Freiheit des Unternehmers! Zur geistigen Freiheit gehört auch wirtschaftliche Freiheit. Auch für materielle Güter soll es einen freien Markt geben, auf dem jeder nach seinen Bedürfnissen und Vorlieben wählen kann, und auch wenn Menschen einander Dienste leisten wollen und können, so sollen nicht andere dies verordnen oder verhindern. Ohne das Zappeln in Vielfalt geht die Aufstiegswahrscheinlichkeit gegen Null!
— Weiter zum
Grünen: Daß es zum Roten komplementär ist, bedeutet bekanntlich nicht Gegensatz, sondern Ergänzung. Die noch junge grüne Bewegung entsprang der Einsicht, daß die Freiheit des Menschen seine eigenen Wurzeln, nämlich die ganze Biosphäre bedroht. Dies war zwar schon lange zu ahnen, aber erst nahe dem Höhepunkt der globalen Beschleunigungskrise konnte es für die Mehrheit manifest werden. So stehen die Grünen nun wohl zurecht in der Mitte des Spektrums, und längst bedienen sich alle anderen bei ihren Ideen.
— Die Blauen
sind in der deutschen Politik als Organisation noch recht unscheinbar. Die "Ökologischen Demokraten" haben sich diese Farbe gewählt – wohl um sich vom allzu weltlichen Grün zum priesterlichen Violett hin abzusetzen, oder um auszudrücken, daß das Gelbe ohne sein Komplement reiner Neid wäre – jener schon erwähnte
Neid der Reichen auf die Armen
und die zugehörige rücksichtslose Gier.
[Anmerkung: Die blauen "Ökologischen Demokraten" treten heute in Orange auf – vielleicht um sich von der blauen AfD abzusetzen…? E.W.]
— Das Violette, das für die Betonung des Spirituellen steht, wird in unserem politischen Spektrum übersprungen, wobei man bekanntlich im unsichtbaren Bereich landet, also im Schwarzen. Die violette Ahnung, daß der Aufstieg des siebten Tages an der spezifisch menschlichen Front in der "geistigen Welt", also letztlich im "Gespräch mit Gott" gefunden wird, spielt bei den Schwarzen wohl nur noch in den Parteinamen eine Rolle. Im Übrigen steht Schwarz eher für die vollständige Unsichtbarkeit irgendwelcher Ideen und für den reinen Willen zur Macht.
— Andererseits schließen sich ja die Farben des Regenbogens für unsere Wahrnehmung im Kreise – und so steht das Violette durchaus dem Roten nahe. Woraus entspringt denn letztlich die rote "Gleichmacherei"? Aus der Einsicht, daß der siebte Tag auch in der Gesellschaftspolitik angebrochen ist. Wenn an der neuen Front, an der die Schöpfung zu Höherem fortschreitet, "vor Gott alle gleich sind", wie man sagt, so bedeutet das selbstverständlich, daß die Lebensgrundlagen, um die an früheren Schöpfungstagen gerungen werden mußte, nun von allen gemeinsam gesichert werden sollen. Nur dann nämlich ist der Mensch wirklich frei zur Entfaltung seiner höheren Fähigkeiten. Wie verschieden weit diese Fähigkeiten bei verschiedenen Menschen auch immer reichen mögen, sie dürfen nicht andere in dieser Freiheit behindern oder gar deren Versklavung durch Aneignung ihrer Lebensgrundlagen ermöglichen. Zu diesen lila-roten Ideen gehört also auch, daß der "Arme im Geiste", der pflegebedürftige Kranke, und selbstverständlich auch der "Seelenpflegebedürftige" vor Gott nicht tiefer steht. Auch er muß an der Sicherung der Lebensgrundlagen teilhaben.
— Um die Farbenlehre abzuschließen: Braun
ist keine Farbe des Regenbogens und wird im neuen Bund der Ideen nicht vorkommen. Seine Attraktivität hatte aber natürlich damit zu tun, daß im faschistischen Ideenbündel auch Strähnen schöner Farben eingeflochten waren – freilich teuflisch verknotet, um die Macht der Finsternis zu verbrämen. Dieser Mißbrauch sollte nun aber nicht dazu führen, daß die Idee des Nationalen verteufelt wird. Das
Volk, definiert vor allem durch eigene Sprache und Kulturgeschichte, wird in der neuen Weltordnung – mehr sogar als in der kapitalistischen – durchaus eine wesentliche Rolle spielen.
* * *
Die politische und kulturelle Vielfalt der Menschheit setzt voraus, daß die wirtschaftliche Verflechtung drastisch reduziert wird. Dies ist angesichts der künftigen Fähigkeit, alle wesentlichen Bedürfnisse mit relativ wenig Arbeit lokal abzudecken, eigentlich eine logische Selbstverständlichkeit. Die Übertreibung des Welthandels, und gar der internationalen Finanzmärkte, dient fast ausschließlich den Ausbeutungsstrategien des Kapitals, der Aneignung der Lebensgrundlagen von noch mehr Armen durch noch weniger Reiche. Angesichts der heutigen Entwicklungen noch immer Ricardos
simple Beispiele für "rationelleres" Wirtschaften in internationaler Arbeitsteilung heranzuziehen, um weitere Globalisierung zu empfehlen, ist unverschämt oder einfach lächerlich. Auch wer den systemtheoretischen Hintergrund des Wesens der Krise noch nicht versteht, muß doch beim Anschauen der Welt wenigstens die offensichtlichen inneren Widersprüche der alten Lehren wahrgenommen haben.
Der Ausstieg aus dem globalen Wirtschaftskrieg erscheint heute den Wirtschaftsfachleuten als ebenso unmöglich, wie vor hundert Jahren den Generalen ein Ausstieg aus der Rüstung zum ersten Weltkrieg. Der Schritt zum Nachdenken über eigene "strukturelle Nichtangriffsfähigkeit" – als erste Stufe zur Organisation allgemeinen Friedens – brauchte fast hundert Jahre. Die allgemeine Beschleunigung macht es nun absehbar, daß bald an besonderen Engstellen die Idee einer "strukturellen Nichtausbeutungsfähigkeit" (nach innen und außen) aufkeimt und sich dann sehr viel schneller ausbreitet.
Wie und wo das geschehen könnte? Über die Details eines so komplexen "Phasenübergangs" kann man schlecht plausibel spekulieren. Das Muster aber, dem das Ganze zustreben und in das es schließlich "umkippen" wird, beginnt sich bereits abzuzeichnen. Es enthält sämtliche Farben unseres politischen Spektrums in ziemlich ausgewogener Mischung. Herausleuchtend ist allerdings das
Orange
– jener Übergang zwischen Rot und Gelb, der an die Ideen gewaltloser Anarchisten erinnert (– nicht an deren schwarze Fahne). Recht verstanden bedeutet ja deren "Herrschaftslosigkeit" nicht etwa Chaos, sondern solidarische Selbstorganisation der Freiheit aller gegen staatliche und wirtschaftliche Macht – also genau das, was ich hier "Freiheit des siebten Tages" nenne. Von Hörern meiner Vorträge habe ich gelernt, daß Piotr Kropotkin und Gustav Landauer offenbar auf sehr ähnliche Spuren geraten waren wie ich. Erstaunlich wäre das nicht, denn um diese Freiheit ringen Menschen seit mehr als zwei Jahrtausenden. Freilich ist erst in den fast 80 Jahren seit der Ermordung Landauers (im Münchener Gefängnis) die globale Beschleunigungskrise in ihr Endstadium getreten, und so ist sicherlich über alle Details neu nachzudenken.
Hier kann ich nur kurz andeuten, wie wir uns einige wesentliche Züge der vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft vorstellen könnten – vor allem das Steuersystem und die gerechte Verteilung der "leistungslosen Einkommen".
Gemeinschaftsaufgaben werden in fünfzig Jahren nicht mehr aus der Besteuerung sinnvoller und erwünschter Tätigkeiten finanziert werden, sondern allein aus Steuern schädlicher Aktivitäten – das heißt solche, die von der Mehrheit als schädlich erkannt sind. Fast alle heutigen Steuern für Bund, Länder und Kommunen sind dann weggefallen. Die Steuerformen, die an ihre Stelle treten, nenne ich gern
Minderwertsteuer
und
Größenbegrenzungssteuer. Die Minderwertsteuer trifft alle nicht erneuerbaren Formen von Energie und Rohstoffen bei der Entnahme aus der Erde oder bei der Einfuhr, und darüber hinaus zum Beispiel alle Verarbeitungs- und Entsorgungsprozesse, bei denen Schadstoffe freigesetzt werden. Man könnte diese Steuer aufs "Durcheinanderwerfen der Biosphäre" auch als "Entropiesteuer" bezeichnen. (Auf Englisch käme in Anlehnung an den Namen VAT der Mehrwertsteuer – für value added tax
– etwa die Bezeichnung TAT – für
trashiness added tax
– infrage...)
Gegen eine solche Besteuerungsform, die ja als "Ökosteuer" schon lange im Gespräch ist, wird noch immer mit absurden Argumenten polemisiert. Man muß aber nur eine einzige Zahl anschauen, um die Vernunft und das ungeheure Steuerungspotential in diesem Konzept zu erkennen. Fragen wir doch: Wie hoch müßte eine reine Energiesteuer sein, wenn sie sämtliche heutigen Steuereinnahmen ersetzen sollte? Das ist leicht auszurechnen: Der durchschnittliche deutsche Primärenergieverbrauch liegt nahe 5,5 Kilowatt pro Einwohner, das heißt ein wenig unter 50.000 Kilowattstunden pro Kopf und Jahr. Um das gesamte Steueraufkommen von etwa dreiviertel Billionen Mark zu ersetzen, müßten also nur etwa 20 Pfennig Steuer pro Kilowattstunde Primärenergie erhoben werden. Das würde etwa 60 Pfennig Steuer pro Kilowattstunde elektrischen Stroms und etwas über zwei Mark pro Liter Öl bedeuten. Könnte das wirklich "die Wirtschaft ruinieren", wenn doch dafür
alle anderen Steuern wegfielen?
Natürlich würde eine solche Steuer nicht über Nacht eingeführt, sondern schrittweise. Dann würde die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas allmählich zurückgedrängt. Das wäre ja der Sinn der Sache, denn die nächsten beiden Generationen müssen es schaffen, den heutigen Verbrauch an fossilen Energieträgern praktisch vollständig durch Sonnenenergie zu ersetzen (wozu im weiteren Sinne auch Wasser- und Windenergie gehören). Man würde also die Höhe der Steuer auf fossile Energie mit dem sinkenden Verbrauch steigen lassen, bis dieses Ziel erreicht ist. Danach würde aber nicht etwa Mangel an Besteuerungsgrundlagen herrschen, denn auch alle anderen frisch entnommenen Rohstoffe (einschließlich des Grundwassers) und viele industrielle Prozesse würden ja besteuert. Die katastrophale Entropieerzeugung durch den Menschen wird noch auf sehr lange Sicht ständig weiter reduziert werden müssen, um die Biosphäre zu schonen. Eine regelmäßige Anpassung des "Entropiesteuersatzes" an die jeweils nötigen und möglichen Reduktionsstrategien ist das einzig logische Mittel, um eine entsprechende Entwicklung von Techniken und Lebensgewohnheiten zu bewirken.
Der zweite Hauptteil der künftigen Steuerbasis ist ebenfalls leicht zu begründen. Wie wir sahen, muß der selektive Vorteil der Organisation im Großen und der schnellen globalen Innovation beschränkt werden, um auf der endlichen Erde "Vielfalt und Gemächlichkeit" zu sichern – jene logischen Voraussetzungen wirklicher Wertschöpfung. Die einzig notwendige Organisation im Großen ist also die Schaffung und Sicherung der globalen Verfassung mit eben diesem Ziel. Dagegen wird das ständige Anwachsen wirtschaftlicher Machtstrukturen grundsätzlich zu behindern sein, wo dies nach Abschaffung des leistungslosen Vermögenswachstums noch nötig ist. Solche Größenbeschränkung wird sich mit relativ wenig Bürokratie erreichen lassen, wenn Steuern auf die Größe von Unternehmen und Eigentum und die Menge gewisser Produkte erhoben werden, die jenseits spezifischer Freigrenzen mit einer rasch steiler werdenden Funktion gewisser Größenmerkmale anwachsen. Anschauliche Beispiele: Die Besteuerung wächst mit dem Quadrat der Zahl der Betten eines Hotels oder der Zahl der Läden in einer "Ladenkette" – oder exponentiell mit der Einschaltquote einer Fernsehsendung, oder mit der Anzahl von Häusern oder dem Wert von Produktionsmitteln im Besitz einer Person oder Personengruppe. Das hört sich kompliziert an, wäre aber wahrscheinlich noch immer mit wesentlich weniger bürokratischem Aufwand verbunden, als das heutige Steuersystem.
Bei Aktivitäten mit besonders schädlichen Folgen ist natürlich ein vollständiges Verbot angebracht, doch wo es um die Steuerung angepaßter Reduktionsstrategien für zerstörerisches Handeln oder Machtkonzentrationen geht, die nicht einfach sofort abgeschafft werden können, sind Minderwertsteuer und Größenbegrenzungssteuer vermutlich die geeigneteren Mittel. Eine Änderung der Besteuerungsparameter sollte dabei im allgemeinen nur allmählich, in voraussehbaren Schritten über Jahre hinweg erfolgen.
Da die moderne Gesellschaft so schrecklich viel Schaden anrichtet, wird es wohl zweckmäßig sein, die gesamte Steuerlast nach diesen Prinzipien noch höher anzusetzen als die heutigen Steuereinnahmen. So könnten die menschliche Arbeit von allen "Sozialabgaben" entlastet und die Lebensgrundlagen aller allein durch Besteuerung der Dummheiten der ganzen Gesellschaft finanziert werden.
* * *
Nun zum Umgang mit den "leistungslosen Einkommen". Wenn solche möglich sind, stellen sie natürlich eine gemeinsame Kulturleistung dar und sollten deshalb dazu dienen, die Grundbedürfnisse aller Bürger zu decken – vor allem zunächst die der Kinder, Kranken und Alten. Was die Gesellschaft heute durch die sogenannte Kapitalbedienung in Form von Zinsen und anderen Erträgen als "Sozialhilfe für die Reichen" aufbringt, um deren Vermögen wachsen zu lassen, das sollte also den Grundstock eines "Bürgergeldes" bilden. Die Summe all dieser leistungslosen Einkommen ist nicht einmal den Finanzspezialisten recht bekannt, aber sie dürfte heute in Deutschland in der Nähe des gesamten Steueraufkommens liegen. Dieses entspricht pro Kopf fast zehntausend Mark jährlich, also an die zweitausend Mark monatlich pro bezahlten Arbeitsplatz. Über diese Art von "Beschäftigungsnebenkosten", die – von der Miete bis zur Bedienung der Staatsverschuldung – in jeder Zahlung versteckt sind und beim zunehmenden Abwürgen unserer Wirtschaft die weitaus wichtigste Rolle spielen, wagt noch immer kaum jemand zu sprechen.
Diese gewaltigen gesellschaftlichen Leistungen den Reichen zu entziehen und statt dessen der Allgemeinheit zukommen zu lassen, erfordert natürlich eine drastische Änderung des Geld- und Bodenrechts und des verfassungsmäßigen Eigentumsrechts überhaupt – auch schon im Zusammenhang mit der Größenbegrenzungssteuer. Ein neues Eigentumsrecht wird also erst verwirklichbar, wenn mindestens zwei Drittel der Bevölkerung verstanden haben, welche Vorteile daraus für sie selbst und das Ganze erwachsen werden. Dieses Verständnis wird aber vermutlich demnächst rasch zunehmen, weil immer absurdere und schemenhaftere wirtschaftliche Phänomene erkennen lassen, daß die Leitideen der kapitalistischen Ordnung nicht durch die Krise hindurchführen, sondern in inneren Widersprüchen enden.
Dagegen sind die Alternativen im Grundsatz so einleuchtend und schon für den "gesunden Menschenverstand" so offensichtlich lebens- und entwicklungsfähig, daß man bald bereit sein wird, die Verfassung zu ändern, um jene verfassungsmäßigen Zwänge zu beseitigen, die heute Natur und Menschen an die abwärts führende Spirale fesseln. Immer mehr Leute aus verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen beginnen, nach den tieferen Gründen unseres Versagens vor den wichtigsten Problemen zu fragen. Und bald wird die "Macht des Geldes" nicht mehr ausreichen, um politische Wirkungen dieses Fragens zu verhindern.
Die detaillierte Diskussion der nötigen Änderungen im Geld- und Eigentumsrecht, die naturgemäß heute noch aus der sogenannten Wirtschaftswissenschaft verbannt ist, hat längst begonnen. Eine wichtige Idee ist wahrscheinlich die eines "neutralen Geldes", das sich nicht schon durchs "Haben" vermehren kann, das aber durch eine in die Geldordnung eingebaute Umlaufsicherung um so besser seine eigentliche Aufgabe erfüllt – nämlich die Erleichterung des Austauschs von Waren und Dienstleistungen. Auch im Umkreis der vielen entstehenden "Tauschringe" (auch LETS genannt – für local exchange trading systems) beginnt systematischeres Nachdenken über fundamentale Mängel der heutigen Geldordnung. Gerade hier liegt ja die Frage besonders nahe, warum eigentlich immer, wenn zwei Menschen etwas füreinander tun wollen, bei anonymen Dritten ein Konto wachsen muß.
Die damit zusammenhängende Diskussion über Zins und Zinseszins, die ja mindestens seit Moses dokumentiert ist, wurde im zwanzigsten Jahrhundert vor allem von den sogenannten "Freiwirtschaftlern" weitergeführt. Dabei war stets klar, daß Änderungen in der Geldordnung allein nicht ausreichen können, um die Aneignung fremder Lebensgrundlagen und die darin liegende "Fortsetzung der Sklaverei" zu beschränken. So schlug einer der Vater der Freiwirtschaft, Silvio Gesell, bereits vor hundert Jahren vor, die reine Bodenrente zu kommunalisieren und allen Kindern des Landes zukommen zu lassen. Es widerspricht ja schon lange jeder Vernunft, daß sich eine Minderheit immer mehr von der Erde aneignen darf – obendrein zunehmend aus leistungslosen Einkommen und "Wettgewinnen". Die in dieser Beziehung bei uns erfolgreich geschürte Begriffsverwirrung hatte Klaus Staeck
einmal mit einem schönen Wahlplakat satirisch aufgespießt:
Deutscher Arbeiter! Die SPD will Dir Dein Häuschen im Tessin wegnehmen!
Großer Widerstand gegen Änderungen wirtschaftlicher Grundstrukturen wird natürlich aus den Zwängen infolge internationaler Verflechtungen erwachsen. Ein Land, das zur Keimzelle solcher Entwicklungen werden möchte, müßte ja zunächst aus vielen Verträgen aussteigen. Das internationale Finanzkapital, WTO und Weltbank, amerikanische Regierung und europäische Kommission – sie alle würden selbstverständlich massiven Druck ausüben, falls in einem Land die Mehrheit auf solche Ideen käme. Selbst bei großen demokratischen Mehrheiten wäre da mit "Strafmaßnahmen" aller Art zu rechnen. Eine wirkliche Abkoppelung vom globalen Wahn ist daher wohl erst vorstellbar, wenn dieser bereits so tief in Turbulenzen geführt hat, daß ohnehin fast alle nur noch mit sich selbst beschäftigt sind – weil klar ist, daß entlang den alten Prinzipien gar keine lebensfähige Lösung in globalem Einverständnis mehr zustande kommen kann.
Schwer vorstellbar, aber nicht unmöglich, ist auch, daß gerade in Europa schon vor derartigen Krisensituationen die hier angedeutete "meta-ökonomische" Diskussion so weit den Boden bereitet hat, daß die europäische Union gemeinsam zu einer anderen Wirtschaftsordnung umschwenken kann. Ihr Gewicht wäre dann wohl groß genug, um rasch die ganze Welt nachfolgen zu lassen. Es ist aber, wie gesagt, unsinnig, sich schon jetzt den Übergang im Detail auszumalen. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, nach den lebensfähigen Ideen zu tasten, die "nach der Krise" weiterführen können. Im entscheidenden Moment müssen diese Ideen schon hinreichend durchdacht und einer nicht mehr vernachlässigbaren Minderheit von "Meinungsführern" plausibel gemacht sein, damit sie im Absturz erreichbar sind und uns auffangen können.
Deshalb ist es besonders wichtig, klarzumachen, daß das Ende des absurden Vermögenswachstums (dem ja großenteils nicht einmal wirkliche Wertschöpfung sondern ein Zerstörungsprozeß zugrunde liegt), die Einführung von Bürgergeld und Grundrente und die radikale Steuerreform nicht etwa "die Wirtschaft schädigen" würden. Ganz im Gegenteil: Eine wirtschaftliche Blüte würde einsetzen, wenn die Fessel der Kapitalbedienung gesprengt wäre. Sogar das auf übliche Weise gemessene Sozialprodukt wüchse zunächst beträchtlich, weil wieder alle viel stärker am Wirtschaftsprozeß teilnehmen könnten. Was gibt es heute nicht für einen gewaltigen Bedarf an Gütern und Dienstleistungen bei jenen, die sich fast nichts leisten können, weil sie arbeitslos sind oder einen so großen Teil ihres Einkommens ins Vermögenswachstum anderer stecken müssen. Man erinnere sich: Etwa drei Viertel der durchschnittlichen Miete entfallen bei uns auf Zinsen, dienen also dem Vermögenswachstum anderer. Auf Iängere Sicht freilich könnte und dürfte das Sozialprodukt nur langsam wachsen – weil ja wirkliche Wertschöpfung nur im Zeitmaßstab der Generationenfolge gelingen kann.
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In der neuen Gesellschaft werden viel mehr Menschen am Wirtschaftsleben teilnehmen, ohne einen Arbeitsplatz in der Industrie oder im Öffentlichen Dienst zu haben. Tatsächlich wird ein großer Teil des letzteren einfach verschwinden. Es gibt "viel weniger Staat". Und auch die Industrie beschäftigt nicht viele – wegen der Automatisierung und wegen der größeren Langlebigkeit und Reparaturfähigkeit der Produkte. Auch die großen Baufirmen verschwinden natürlich, wenn Gebäude für Generationen gebaut sind und nicht durch Bomben vernichtet werden. Aber dafür gibt es wieder viele Handwerker und andere kleine Dienstleistungsunternehmen. (Sogar ein Wissenschaftler mit Kindern wird es sich leisten können, einen Installateur zur Reparatur seiner Küchenarmatur zu rufen, statt ein Wochenende auf dem Boden kriechend zu verbringen, weil selbst ein Schwarzarbeiter zu teuer käme...).
Schwarzarbeit – welch irrsinniges Konzept! Jeder wird frei sein, zu arbeiten, was und wieviel er will und kann. Leistung wird sich wieder lohnen. Sind dann nicht alle "gelben Ideen" verwirklicht?- Sogar Gewerkschaften und Tarifverträge werden weitgehend überflüssig – aber auch ein großer Teil der Gefängnisse, denn nicht einmal die Mafia lohnt sich noch. Dafür werden Theater nur so aus dem Boden schießen – ganz ohne öffentliche Subventionen – und sie werden um ein viel größeres Publikum konkurrieren als heute. Selbst in Konzerten berühmter Musiker
wird man auch Eltern mit Kindern sehen. Was man sich alles leistet! So billig ist zum Beispiel das Wohnen geworden, wenn dieses Grundbedürfnis nicht mehr zur Ausbeutung mißbraucht werden kann.
Habe ich Wichtiges vergessen? Ach ja. natürlich – die
Bildung im 21. Jahrhundert. Kindergärten, Schulen und Universitäten werden Gebühren erheben, und vielleicht verlangen sogar manche Meister wieder Lehrgelder! Aber das Geld für Erziehung und Ausbildung wird den Kindern und Jugendlichen zuvor in Form von Gutscheinen zur Verfügung gestellt! Dies wird als selbstverständlicher erscheinen als die heutigen "Eigentumsrechte". Im übrigen aber ist dann das ganze Erziehungs- und Bildungswesen weitgehend privatisiert. Schulen konkurrieren um Schüler und die jeweils geeignetsten Lehrer, Universitäten um Professoren und Studenten. Welche Vielfalt von Wahlmöglichkeiten! Welcher Wettbewerb! Aber wer in ihm nicht besteht, geht nicht unter. Die Lebensgrundlagen sind für alle gesichert. Überall fröhliche Menschen. Singen und Spielen hört man sie. Das muß wohl das "Jubilieren zum Lobe Gottes" sein, das den siebten Tag charakterisieren soll. Aber jeder, der etwas tun will, wird etwas zu tun finden, was seinen Fähigkeiten und Vorlieben entspricht. Wetten, daß fast jeder etwas wird tun wollen?
Kultusministerien werden allerdings wenig zu tun haben. Selbst die "Aufsicht" wird wahrscheinlich weitgehend durch die Konkurrenz ersetzt – allerdings einer Konkurrenz um etwas höhere Ideen als die der Aneignung. Vielleicht kann sich der Staat noch ein wenig in die Stipendienvergabe für begabte Studenten einmischen – denn natürlich bekommt niemand ohne Leistungsnachweise die Studiengebühren ersetzt, jedenfalls nicht ab einem Alter von – sagen wir – 21 Jahren. Aber angesichts des vielen Geldes, das in der blühenden Wirtschaft umliefe, dürften sogar Stipendien oft durch private Spenden oder Darlehen finanziert werden. ("Neutrales Geld" wird ja stets auf der Suche nach werterhaltender Investition sein, weil ihm die Aneignung und Ausbeutung von Lebensgrundlagen versperrt ist und weil es gewissermaßen "verrostet", wenn es nicht durch ständigen Umlauf aufgefrischt wird.)
Übrigens wird auch für die Entwicklung von Lehrplänen und die Formulierung von Bildungszielen kein Ministerium mehr nötig sein. Das regelt sich alles durch Angebot und Nachfrage auf dem freien Markt, ganz ohne Bürokratie. Was die Zeugnisse verschiedener Schulen oder Universitäten wert sind, spricht sich herum – und außerdem schaut man sich Stellenbewerber auch unter anderen Gesichtspunkten als Noten und Punkten an (– und sogar entlassen kann man sie ganz leicht wieder, wenn man diese Möglichkeit vertraglich vorgesehen hat). Freilich – Minderwertsteuern, Größenbegrenzungssteuem, Abschaffung der Subventionierung des Kapitals – lauter Schranken in diesem Märchenland der goldenen Jahre des 21. Jahrhunderts! Ist das alles nicht doch Ausdruck strenger Regulierung? Es kommt doch nicht von allein!
In der Tat. Auch die befreiende Kulturleistung des siebten Tages wird selbstverständlich eine Folge von Selbstbeschränkung sein – wie jeder gelungene Schritt der Selbstorganisation im Schöpfungsproze? – wie immer, wenn eine attraktive Gestalt gefunden wird, die nicht so bald wieder verlassen werden muß. Fast alles, was gut war, bleibt ja. Das Falsche, das nicht mehr Lebensfähige ist es, was beschränkt wird. Jammern wir nicht länger über die kapitalistischen und neoliberalen Lehren, die uns weismachen, an der komplexesten Front im Raum der Möglichkeiten seien das Wachstum der Vermögen und des klassischen Sozialprodukts geeignete Kriterien für die Beurteilung der Lebensfähigkeit. Lachen wir endlich darüber, und verlassen wir diese Ideen. Sie mögen ein unvermeidbares Stück des Weges durch die Kindheit der Menschengesellschaft gewesen sein – sich aber im Erwachsenwerden weiterhin an solche Ideen zu klammern, das ist kindisch.