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im Gespräch mit Michael Langer

in der Live-Gespräch-Sendung „Zwischentöne“ am 27. März 1999 im Deutschlandfunk

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M. LANGER: Unser Gast in dieser Ausgabe der Zwischentöne, die heute live aus München kommen, heißt Peter Kafka. Er ist Physiker, Astrophysiker, um genau zu sein – manche nennen ihn auch einen Ökologen, für wieder andere ist er vielmehr ein Wissenschafts-, Fortschritts- und Gesellschaftskritiker. Er hat bis zu seiner Pensionierung im vergangenen Jahr 33 Jahre lang im Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik in Garching bei München gearbeitet und sich dort mit Fragen der Kosmologie beschäftigt. Von den vielen Schriften, die er veröffentlicht hat, möchte ich hier nur, in gebotener Kürze, ein Buch nennen, sein letztes Buch, das folgenden Titel trägt: Gegen den Untergang. Schöpfungsprinzip und globale Beschleunigungskrise. Dieser Titel hat durchaus was programmatisches und deutet es schon an: Peter Kafka ist jemand, der nicht wie der Schuster bei seinem Leisten bleibt, sondern er gelangte von der Astrophysik bis zur Kapitalismuskritik. Wie es dazu kam, was es damit auf sich hat, das werden wir in den kommenden anderthalb Stunden neben vielem anderen erfahren, und damit – herzlich willkommen, Peter Kafka, guten Tag!






P. KAFKA: Guten Tag – oder: Grüß Gott müßte ich sagen, weil wir in München sind!






M. LANGER: Was sind Sie denn eigentlich?






P. KAFKA: Ja, das muß ich sagen, die Frage hab ich mir eigentlich nie gestellt, weil ich immer wußte, daß ich ich selber bin. Aber daß mich die Leute einen Ökologen nennen, gelegentlich, das hat eben damit zu tun, daß es für das, was ich tue, eigentlich gar kein Wort mehr gibt, nämlich: über alles nachdenken, und mit dem, was man begriffen hat, versuchen, über alles sich ein Bild zu machen. Heute ist eben die Welt zerfallen in lauter Spezialwissenschaften, und wer über seinen Tellerrand hinausguckt, gilt gleich als... ja, das ist eine Übertretung, das darf man eigentlich nicht. Ökologie ist ja eigentlich die Wissenschaft, die biologische Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, wie die verschiedenen Arten untereinander und mit ihrer Umwelt zusammenhängen. Wenn man den Menschen nun nur als lebendige Art nehmen würde und da mit hineinzieht, dann könnte man sagen, daß das, was ich tue, Ökologie ist. Aber der Mensch ist nun eben doch auf eine Weise über die üblichen biologischen Zusammenhänge hinaus geraten, er bestimmt ja heute letztlich alle Zusammenhänge zwischen lebendigen Arten bis hin zu den Zusammenhängen mit dem irdischen Klima und allem, das heißt: wir gestalten die ganze Erde. Und darüber nachzudenken, das traut sich kaum jemand zu, dafür gibt es keine wirkliche Wissenschaft, und wer das tut, weiß ich auch nicht. Ich meine, nennen Sie mich einen Philosophen oder einen Denker oder... ich weiß es auch nicht.






M. LANGER: Auch noch einen Philosophen?! Und trotz dieser Spezialisierung in die verschiedenen Fächer spricht man aber auch von Globalisierung, vielleicht kommen wir dazu später noch. Herr Kafka, Sie haben 1965 im Max-Planck-Institut angefangen zu arbeiten, und da müßten Sie, wenn ich mich recht entsinne, eigentlich dem großen Physiker Werner Heisenberg begegnet sein – oder gibt es da eine „Unschärferelation“ bei mir?






P. KAFKA: Nein. Natürlich. Ich war sogar schon vor '65 in dem Institut, weil ich dort auch schon die Diplomarbeit gemacht hatte. Also seit '63 habe ich Heisenberg gekannt, der dort damals noch Direktor war des Instituts für Physik und Astrophysik, die waren damals noch gemeinsam in Freimann am Münchner Stadtrand; erst später, '79, wurde dann die Astrophysik nach Garching verlegt, weil die Physik sich zu sehr expandiert hatte. Also, ich hab Heisenberg natürlich noch gut gekannt, und die Haupterinnerung, die ich an ihn habe, ist allerdings, daß er ja als führender deutscher Physiker sehr viel Post kriegte von allen möglichen Leuten, die glaubten, sie könnten die ganze Physik umkrempeln. Es gibt ja erstaunlich viele Menschen, intelligente Menschen, die früher Professor waren für dies und das, für Gynäkologie oder Ingenieurswissenschaft, wenn die dann alt werden, dann fangen sie an sich mit Fragen der Schwerkraft und des Weltalls zu beschäftigen und erfinden dann eine völlig neue Physik, Kosmologie und so weiter und schicken das dann an die Direktoren von führenden Forschungseinrichtungen. Das kriegte Heisenberg immer, und diese Sachen wanderten dann meistens auf meinen Schreibtisch weiter, weil ich der einzige im Institut war, der so ein bißchen offener war für die „Spinnereien“. Bei mir gibt es heute noch mehrere Ordner wo draufsteht „Spinner usw.“, wo aber auch wirklich manchmal interessante Dinge dabei sind.






M. LANGER: Also, da ist etwas abgefallen für Sie... Ich hab schon gesagt, Sie haben sich mit Fragen der Kosmologie beschäftigt aber auch mit Neutronensternen, mit Gravitationswellen, mit Schwarzen Löchern – wir wollen hier keine Sendung fürs Fachpublikum machen, aber einiges interessiert mich daran schon, zumal Sie ja von diesem Fach dann zu weiterführenden politischen, gesellschaftlichen, sozialen Fragen gelangt sind. Wie gelingt das, von Schwarzen Löchern bis zu unserer Gesellschaft zu kommen?






P. KAFKA: Die Kosmologie ist die Wissenschaft, die der Frage nachgeht, wie die Welt im Großen beschaffen ist und was sie für eine Geschichte hat, und wir wissen heute, daß eben alles, was wir die Welt nennen, ursprünglich eins war, aus einem gemeinsamen Ursprung kommt und dahinter ein ganz einfaches Prinzip steht, die sogenannten Naturgesetze, auch wenn wir sie noch nicht genau kennen, aber das ist doch etwas ziemlich einfaches, und darauf beruht die ganze Entwicklung der Welt, und ich bin natürlich dann, als ich über Kosmologie Veröffentlichungen gemacht hatte, öfters gefragt worden, wie denn der Mensch in dieses Bild hineinpaßt, und dann mußte ich halt Vorträge halten. Da fängt man mit dem Anfang der Welt an und soll dann bis zum Wirtschaftswunder oder sowas kommen – Frage: wie hängt das alles zusammen? Das Interesse an Kosmologie liegt ja genau daran, daß die Menschen... das interessiert die nicht, wie die Sterne funktionieren und die Milchstraßen, das ist nur am Rande; was sie wirklich interessiert, ist: ja, was ist denn unser Platz in diesem Kosmos? Wo gehören wir denn da hin, und wie sind wir denn daraus geworden?






Wenn ich solche Vorträge halten mußte, habe ich selbstverständlich versuchen müssen, die alten Schöpfungsmythen auf etwas modernere Weise darzustellen, um unseren Platz in der Welt zu finden. Da sehen Sie, da kommen Sie natürlich automatisch auf die aktuellen politischen, gesellschaftlichen, geistigen Fragen, denn der Mensch ist nun mal in dieser Situation, wo ihn hauptsächlich das interessieren muß. Aber ganz aktuell fing ich an zu schreiben über diese Fragen, als ich einmal gebeten wurde, einen Aufsatz zu schreiben für ein englisches Buch, das hieß The Ecyclopaedia Of Ignorance, mit Beiträgen von Leuten aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen, die über etwas schrieben, worüber man bisher nur spekulieren konnte und noch nichts wußte. Da wurde ich gefragt zu schreiben über die Zukunft des Universums. Na ja, klar, wenn Sie da anfangen beim Urknall, bis hierher, dann sehen Sie auf einmal, es ist alles immer komplexer, immer raffinierter und immer schneller geworden, die Vorgänge, die da abgelaufen sind. Und wenn sie die ganze Schöpfungsperiode, die „sieben Tage“, zusammendrängen auf ein Jahr, dann sehen Sie, in den ersten Sekundenbruchteilen dieses Jahres entsteht die Materie und im Januar sind schon alle Galaxien da und die Sterne, und Mitte August wird unsere Sonne geboren und die Erde dazu und die Planeten, am 25. Dezember wird das warme Blut erfunden und in der Nacht zum 31. spaltet sich die Linie von den Primaten ab, die zum Menschen geführt hat, und eine Viertelstunde vor Mitternacht (Neujahr) beginnt die überlieferte Geschichte und 4 Sekunden vor Mitternacht ist Jesus, und mein Leben ist eine Zehntelsekunde in diesem Bild, und da sehen Sie diese Beschleunigung des Schöpfungsprozesses.






Und damals ist es mir dann so gegangen, daß ich sofort gespürt hab: mein Gott, das nächste Jahr in diesem Bild interessiert mich nicht, das wäre nun wirklich unbescheiden, darüber schreiben zu wollen – jetzt laß mich doch nachdenken, was die nächste Zehntelsekunde bringen wird. Und dann wollten die Leute das nicht veröffentlichen, die wollten dann nur die ersten zwei Drittel von dem Aufsatz veröffentlichen, weil das war halt das Übliche. Und daß man aber jetzt anfängt zu sagen: nein, mich interessiert die Zukunft des Universums nicht, denn ich bin zuständig dafür, daß es hier überhaupt weitergeht... gut, dann hab ich es zurückgezogen. Und da hab ich es sozusagen zum ersten Mal so richtig gespürt, was eigentlich mein Thema ist, und hab dann seit damals, das ist über zwanzig Jahre her, fast ein Vierteljahrhundert, zunehmend über andere Fragen nachgedacht und mich immer mehr von der Astrophysik abgewandt, was natürlich ein bißchen unfair war gegenüber meinem Institut, aber nachdem ich dort auch immer noch ein bißchen was getan habe hat man mich weiterleben lassen dort.






M. LANGER: Jetzt sind Sie – beschleunigt – mir schon fast davongelaufen, denn die Themen, die Sie jetzt ansprechen, eröffnen ein großes, weites Feld. Ich möchte nochmal zurück zu Ihrer Position in dieser Welt. Wie hat es denn bei Ihnen angefangen, daß Sie überhaupt zu den Naturwissenschaften gekommen sind? Gab es da Ursachen in der Familie? Hatten Sie als Pubertierender schon Vorlieben dafür, eine Dampfmaschine zu bauen, oder wie kam das?






P. KAFKA: Nein, nein, um Gottes Willen, das tu ich ja auch heute nicht. Ich kann auch heute nicht sehr gut Dinge reparieren. Ich hab aber natürlich schon als kleines Kind angefangen, über alles nachzudenken, weil ich bin ja '33 geboren, bin also sehr schnell damit konfrontiert worden, daß alle Erwachsenen verrückt waren, alle meine Lehrer; die Eltern waren zwar nicht verrückt, aber sie hatten auch ihre Schwierigkeiten und konnten vor allem keinen Platz finden in dieser Welt, weil sie stark unterdrückt wurden und rausgestoßen. Aber ich hab eben damals gespürt, daß alles das, was ich hörte und las, nicht stimmte, daß die Welt voller Lügen war ringsherum, nicht nur aus dem Radio sondern auch aus den Zeitungen und aus den Schulbüchern und überall. Und da hab ich natürlich angefangen nachzudenken, was denn eigentlich los ist. Ich hatte das Glück, einen Großvater gehabt zu haben, der mich sehr früh beeinflußt hat, weil er auch so eine Art hatte, alles nachzufragen und nichts zu glauben, und mein Vater war zwar sehr still und hat das nicht so laut gesagt, aber ausgestrahlt hat er diese Suche auch. Und dadurch hab ich von kleinauf mich immer für alles zuständig fühlen müssen, weil alles, was mir erzählt wurde, stimmte ja nicht.






Beim Abitur war mir immer noch nicht klar, was ich studiere, es hat mich alles interessiert. Und dann ist es mir aber so ähnlich gegangen wie das auch Carl Friedrich von Weizsäcker von sich berichtet, daß er also auch nicht wußte, was er denn will, weil ihn alles interessierte, und dann hat Heisenberg ihm gesagt als jungem Mann, als ganz jungem Mann: ja, wenn du überhaupt weiterkommen willst im Denken, dann mußt du doch erst mal das einfachste verstanden haben, und das ist nun mal die Physik, nämlich wie funktioniert denn überhaupt die sichtbare, materielle Welt, und was ist denn das überhaupt: Raum und Zeit und Materie? Und diese Frage, die hat mich dann eben genauso beschäftigt, daß ich mir dann gesagt habe: ja wie soll ich denn über die geistigen Probleme und über die ethischen Fragen nachdenken, wenn ich nicht mal weiß, wie die Materie funktioniert – und deshalb hab ich angefangen, Physik zu studieren. Ich hatte dafür keine übermäßige Begabung, und es hat dann nach einiger Zeit auch angefangen mich zu langweilen.






Allerdings kamen da auch große persönliche Krisen hinzu, gesundheitliche und seelische Krisen, ich bin, wie die meisten jungen Menschen, die ein bißchen sensibler sind, nicht fertig geworden mit der Frage der Sexualität und der Beziehung von Menschen, und hab also wirklich sehr gelitten in meinen jungen Jahren, und hab dann mein Studium abgebrochen, als ich eine Diplomarbeit angeboten kriegte, und hab statt dessen fünf Jahre lang sozusagen nichts getan, halt nur meinen Lebensunterhalt verdient in irgendwelchen Erziehungseinrichtungen, hatte dann auch noch ein nicht-eheliches Kind, das ich unterhalten mußte; hab also einfach so um mich geschaut und eben ein bißchen was gemacht und mich ein bißchen erholt von meinen verschiedenen Leiden, und erst später hab ich dann, als ich mehr Geld brauchte, weil ich geheiratet habe... dann wurde eben klar: mehr Geld brauche ich auf jeden Fall, also einen anständigen Beruf muß ich doch ergreifen; dann hab ich rumgeschaut, was ich denn studieren könnte, die Physik wollte ich gar nicht mehr studieren, und dann hab ich gesehen – ich bin herumgereist bei Universitäten und habe mit Assistenten und Professoren gesprochen – und hab gesehen, daß eigentlich alles das, was da in Frage kam, von der Psychologie bis zu Indogermanistik und irgendwas – mich interessierte halt alles immer noch, oder Philosophie – und ich hab gesehen, das war alles eigentlich doch... nein, die Universität konnte mir da nicht wirklich viel bieten, dann habe ich gesagt: laß mich schnell die Physik fertig studieren.






Und da passierte, das war ein glücklicher Zufall, daß gerade in der Zeit, als ich dann mein Physik-Diplom machte, und der Professor Schlüter, der damals Direktor des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik geworden war, der war interessiert an allgemeiner Relativitätstheorie, obwohl das überhaupt nicht sein Fachgebiet war. Dann gab er mir eine Diplomarbeit in dem Bereich, und da hatte ich zwei Jahre lang schwer zu arbeiten, mich einzuarbeiten in Allgemeine Relativitätstheorie und Gravitationstheorie. Und gerade zu dieser Zeit wurde bemerkt, daß das auch in der Astrophysik eine wesentliche Rolle spielen würde, weil man die Quasare entdeckt hatte, dann, kurz darauf, auch die Neutronensterne und so, wo man eben merkte: die Schwerkraft spielt eben doch, obwohl sie so schwach ist im Vergleich zu den anderen Kräften, eine wesentliche Rolle in der Welt und vor allem in der Kosmologie auch, und deshalb gelang es mir ganz leicht, ohne Schwierigkeiten in dieses Max-Planck-Institut für Astrophysik reinzurutschen; ich hab halt gesagt: brauchen Sie jemanden, der sich mit relativistischer Astrophysik beschäftigte? Und seitdem bin ich dort – gewesen. Jetzt bin ich nicht mehr dort.






M. LANGER: Nicht um uns zu erholen von dieser Rede, sondern weil uns interessiert, welche Musik Sie interessiert, wollen wir zum Johann Sebastian Bach kommen, Contrapunctus 13 b aus der Kunst der Fuge; wir hören – ausgewählt von unserem Gast Peter Kafka – Johann Sebastian Bach, gespielt vom Berliner Saxophonquartett.






(Einspielung)






P. KAFKA: Ja, das ist vielleicht ein bißchen ungewohnt, die Kunst der Fuge auf Saxophon zu hören, aber mich hat das fasziniert, weil meine alte Aufnahme für ein Kammerorchester, die ist leider schon so abgespielt, daß ich mir dann die besorgt habe, und ich finde das also auch faszinierend, daß man die Musik von Bach auf solch unkonventionelle Weise spielen kann. – Aber über Musik wollen wir hier nicht diskutieren.






M. LANGER: Aber über Unkonventionelles – das ist ja für Sie das Stichwort. Was ich erstaunlich finde: wie Sie als Physiker dazu kommen, von der Wissenschaft als „Opium fürs Volk“ zu reden, Peter Kafka?






P. KAFKA: Ja, das ist natürlich eine sehr provokative Aussage. Die stammt, glaube ich, auch aus einer Überschrift für einen SPIEGEL-Artikel, den ich mal geschrieben habe zum 20. Jahrestag der Mondlandung.






M. LANGER: Ich habe das immer wieder und überall gelesen.






P. KAFKA: Ich benütze das auch immer wieder. Wenn Sie sich anschauen, wie heute die Gesellschaft von der Wissenschaft geradezu besessen ist! Die Gesellschaft ist konfrontiert mit unendlich vielen Problemen und weiß nicht, wie sie sie lösen könnte – die Philosophen wissen das natürlich nicht und die Theologen erst recht nicht. Die Wissenschaft sagt: ja, wir bieten eine Lösung an. Wenn Sie einen Wissenschaftler heute fragen: Was ist denn die Aufgabe des Wissenschaftlers in der Gesellschaft? – dann sagen eben die meisten: Ja, wir müssen Neues finden, wir müssen der Gesellschaft neue Optionen anbieten, damit sie ihre Probleme bewältigen kann.






M. LANGER: Aber Optionen nicht immer für alles und für das Globale, sondern immer nur für die einzelnen Fragen.






P. KAFKA: Ja. Es tauchen Fragen auf, es tauchen Probleme auf, und die Wissenschaft bietet mit Hilfe ihrer Naturerkenntnis Lösungen an. Ich hab dann immer gefragt: Ja, wie viele neue Optionen?






M. LANGER: Möglichst viele!






P. KAFKA: Ja, möglichst viele. Und dann frage ich weiter: wie viele pro Stunde denn? Wie viele pro Sekunde bzw. wie viele pro Nanosekunde? Da sehen Sie das Problem. Und mit diesem Problem beschäftigen sich merkwürdigerweise die Wissenschaftler überhaupt nicht! Wenn man ihnen diese Frage stellt, werden sie ganz böse und sagen: Das ist doch nicht meine Aufgabe! Das muß die Gesellschaft lösen! – Wir sehen aber: die Gesellschaft kann dieses Problem nicht lösen. Man kann eben nicht beliebig viele neue Optionen in immer kürzerer Zeit wahrscheinlich auf eine vernünftige Weise, auf lebensfähige Weise zusammenflechten. Deshalb führt eben dieses ständige Erfinden von immer neuen „Problemlösungen“ zur Erzeugung von immer mehr Problemen; jedes neue „gelöste“ Problem schafft weitere zwei oder zehn neue Probleme. Sie sehen, da ist ein exponentielles Wachstum der Probleme. Und dieser Frage gegenüber kapituliert die Wissenschaft vollständig und sagt: Das ist Gott sei Dank nicht mein Problem. Das soll doch die Gesellschaft machen! – Aber wie die Gesellschaft das machen könnte, darüber denkt kaum einer nach. Selbst die Philosophen, die sich mit dieser Frage der ständigen Beschleunigung beschäftigen, sehen das als ein Naturgesetz an, dem man nicht entrinnen könnte, und glauben: so ist halt die Welt und so ist halt der Mensch, und das muß halt so weiter gehen. Daß das nicht so weitergehen kann, daß hier ein Problem ist, was an eine kritische Grenze stößt, das will immer noch fast niemand sehen.






Was das mit dem Opium zu tun hat? Sie sehen: das ist ein Suchtverhalten. Es ist genau wie beim Süchtigen. Der entdeckt eine Problemlösung, nämlich: es geht ihm dreckig, und es bietet ihm jemand ein Pulverchen oder einen Tabak an und sagt „Nimm doch das, dann wird‘s besser!“ – und tatsächlich, es wird besser! Aber, siehe da, nach ganz kurzer Zeit merkt er: er hat jetzt zwei neue Probleme. Dann nimmt er ein bißchen mehr von dem Zeug, und nach einiger Zeit stellt er fest: das reicht gar nicht mehr, er muß ein anderes Mittel nehmen, ein stärkeres. Und so weiter. Sie sehen hier, das ist ein exponentielles Verhalten, eine Instabilität.






M. LANGER: Ich glaube nicht, daß das grundsätzlich für die Technik und die Wissenschaft gilt. Viele Problemlösungen waren durchaus sehr wirksam. Nehmen wir den Professor Semmelweis: Hände waschen, Hygiene ist gut gegen das Kindbettfieber.






P. KAFKA: Ja natürlich!






M. LANGER: Zum Beispiel. Welche Probleme sind daraus entstanden? Ich wüßte keines.






P. KAFKA: Na ja, da wär ich vorsichtig! Das ist immer sehr viel schwerer zu erkennen, was die Nebenwirkungen von sogenannten Problemlösungen sind, da können wir jetzt hier nicht drauf eingehen, da bräuchten wir ein ganzes Jahr, um darüber zu diskutieren. Aber da gäbe es viel zu sagen.






Natürlich sind ja all diese wissenschaftlichen Probleme erst mal prima! Es wird wirklich ein Problem damit gelöst! Und vieles, was bei unseren Vorfahren ganz mies war, ist dadurch besser geworden. Und trotzdem sehen Sie ja: insgesamt geht‘s auf eine ganz merkwürdige Weise bergab, daß nämlich nun sogar das Klima der Erde umzukippen droht und daß jede Stunde zehn lebendige Arten von der Erde verschwinden, für immer, die für ihre Entstehung zehn Millionen Jahre brauchen. Da sehen Sie doch, daß hier ganz ganz tiefe, fundamentale Zerfallsprozesse im Gange sind, durch unsere geschickten, wunderbaren und erfolgreichen Problemlösungen. Das heißt: wenn jemand eine neue Maschine erfindet oder einen neuen Apparat oder was, was dem Menschen Vorteil verschafft – welche Nebenwirkungen das in der Biosphäre und in der Gesellschaft hat, das wird alles erst sehr viel später erkannt, wenn überhaupt, und oft dann, wenn‘s zu spät ist. Deshalb ist es ja so schwierig, diese Krise zu überwinden. Erst wenn man verstanden hat, daß hier wirklich ein kritisches Phänomen ist, daß nämlich es kritische Grenzen für die Geschwindigkeit der Erneuerung, für die Innovationsgeschwindigkeit gibt, daß also eine kritische Innovationsgeschwindigkeit wirklich existiert, und daß es auch eine kritische optimale Größe gibt – es kann nicht immer größer werden, Sie wissen ja, der Planet ist ja rund, es kann nicht beliebig größer werden, es gibt auch hier eine kritische Größe, und der Schöpfungsprozeß stößt durch das ständige Schneller- und Größerwerden an kritische Grenzen an.






Das ist mir aufgegangen vor 25 Jahren, als ich angefangen habe, über das Schöpfungsprinzip nachzudenken, angefangen mit der Astrophysik: Wie kommen denn die Strukturen in die Welt? Woran liegt es, daß in der ungeheuren Menge von Möglichkeiten solche phantastischen, lebensfähigen Gestalten gefunden werden wie die Sterne, die Milchstraßen, das Leben, der Mensch, die Kultur? Wie kommt es, daß das gefunden worden ist, und wie kommt es andrerseits, daß das zusammenbrechen kann, wenn es an die kritische Grenze stößt?






M. LANGER: Welche Problemlösungen der Wissenschaftler Peter Kafka vorschlägt und ob er überhaupt welche anzubieten hat, das werden wir im zweiten Teil der Zwischentöne erfahren – hoffe ich – nach den 14-Uhr-Nachrichten; bis dahin hören wir Musik, Peter Kafka, die Sie uns mitgebracht haben heute für die Zwischentöne, und zwar von Arvo Pärt „Es sang vor langen Jahren...“; das beruht auf einem Gedicht von Clemens Brentano.






P. KAFKA: Ja, weil ich immer so schrecklich schnell rede, wollte ich Ihnen jetzt was ganz ruhiges vorstellen.






(Einspielung / Nachrichten)






²²²






M. LANGER: Da sind wir wieder: Michael Langer, der durch diese Sendung führt, und unser Gast, der Physiker und – ich nenne ihn einmal so: Fortschrittskritiker – Peter Kafka. – Herr Kafka, Sie tragen einen berühmten Namen, Sie haben einen berühmten Namesvetter, Franz Kafka,Sie sind aber weder verwandt noch verschwägert mit dem großartigen Prager Schriftsteller?






P. KAFKA: Na, so ganz genau weiß ich es nicht; eine entfernte Verwandtschaft besteht vielleicht, denn in meiner Familie ging die Legende, daß der tschechische Name Kafka, der „Dohle“ heißt, daß der in die jüdische Gemeinde reingekommen sei dadurch daß ein Tscheche übergetreten ist zum Judentum in der Zeit, als man in Böhmen nicht mehr protestantisch sein durfte – dann sind manche Leute lieber Juden geworden als auszuwandern, weil sie hätten sonst katholische werden müssen. Ob die Legende stimmt, weiß ich nicht. Aber wenn es so ist, dann wären wir also zumindest ein paar Generationen zurück wahrscheinlich doch miteinander verwandt.






M. LANGER: Haben Sie womöglich durch diese Namensgleichheit ein besonderes Verhältnis zu Franz Kafkas Literatur? Haben Sie ihn besonders gern gelesen und auch Gewinn aus der Lektüre gezogen?






P. KAFKA: Ja, ob das nun an der Namensgleichheit liegt, weiß ich gar nicht genau, aber es hat wahrscheinlich schon eine Rolle gespielt, als ich so mit sechzehn Jahren im Amerikahaus ihn entdeckt habe... das mich ungeheuer fasziniert hat; das war ein richtiges Schockerlebnis, als ich das erste Buch von ihm aufschlug, und ich weiß heute noch die ersten Zeilen auswendig, die ich gelesen habe, ich hab zufällig aufgeschlagen und ein paar Zeilen gelesen, und die weiß ich heute noch auswendig; das heißt: er hat mich wirklich ganz stark getroffen, und ich hab mich ihm auch sehr verwandt gefühlt, vor allem in meinen Träumen. Aber ich habe dann doch sehr bald das Gefühl gehabt, daß ich einen anderen Weg versuchen muß als er, denn er ist ja mit Vierzig gestorben, und das wollte ich nicht, sondern ich hab dann gesehen, es gibt vielleicht doch auch noch was anderes zu tun als zu dichten, vor allem hatte ich nicht diese Begabung wie er, meine Träume auch für andere Menschen so zu öffnen.






M. LANGER: Das gelingt Ihnen mit Ihren Büchern auf andere Weise doch ganz gut. Bei Kafka in den Tagebüchern heißt es mal sehr schön: Es gibt kein Ziel, aber einen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern. Bei Ihnen ist es ganz anders: Sie zögern nicht und haben durchaus ein Ziel.






P. KAFKA: Ja, ich hab ja genau diesen Satz von Kafka mehrmals am Ende von Vorträgen umgedreht, indem ich gesagt habe: es gibt einen Weg, aber kein Ziel; was wir Ziel nennen, ist eine Einbildung unserer Ungeduld. – Das ist natürlich, wie Sie sehen, genau so wahr, wie der andere Satz.






M. LANGER: Ihr Ziel ist aber doch, daß die Welt, bitteschön, eine bessere werden möge?






P. KAFKA: Das ist ja kein Ziel, sondern das bedeutet, einen Weg zu finden, auf dem es weiter „aufwärts“ gehen kann. Aufwärts – was das ist, darüber können wir vielleicht jetzt hier nicht sprechen, das ist ein bißchen schwierig, aber ich glaub jeder weiß, was das bedeuten soll, nicht wahr? Und das ist nicht ein Ziel. Ich meine, natürlich gibt man dieser Richtung auch Namen und nennt das dann ein Ziel. Zum Beispiel ist ja das Wort „Gott“ ein Wort dafür.






M. LANGER: Wollen wir zum Auftakt dieser zweiten Runde der Zwischentöne Musik hören von Dimitri Schostakowitsch – Präludium und Fuge A-Moll, am Klavier ist Keith Jarrett!






(Einspielung)






M. LANGER: Präludium und Fuge A-Moll von Dimitri Schostakowitsch, gespielt von Keith Jarrett – gar nicht mal so schnell, also „Beschleunigungskrise“ wäre hier das nicht zutreffende Wort, der nicht zutreffende Begriff. – Beschleunigungskrise! Man kann es sich ja, Herr Kafka, in unser aller täglichem Leben, ganz gut klarmachen, wenn man so an die Digitalisierung und Automatisierung in der Arbeitswelt denkt, an die „Computerisierung“; das ist ein schönes Stichwort: der Computer, den Sie heute kaufen, der ist nächstes Jahr schon wieder veraltet, da muß man mitmachen, um am Ball zu bleiben, das nächste Update der Software kaufen, und überhaupt erkennt man mitunter in der Mitte seines Lebens die Welt gar nicht mehr, in die man eingetreten ist...






P. KAFKA: Ja, das war ja der Anlaß dafür, daß ich diese „globale Beschleunigungskrise“, wie ich das nenne, entdeckt habe, so zu sagen als ein systemtheoretisch notwendiges Phänomen, eben das Prinzip der Schöpfung, das darin besteht, daß die Wirklichkeit in ihrer Nachbarschaft im Raum der Möglichkeiten „herumzappelt“, „herumtastet“ nach anderen Möglichkeiten; das muß sie tun, das ist aufgrund der Naturgesetze so, daß die Wirklichkeit nicht starr sein kann, sondern sie muß herumzappeln nach anderen Möglichkeiten, und wenn sie dabei welche findet, in denen alles ein bißchen besser zusammenpaßt, und das deshalb überlebensfähiger ist, dann überlebt eben das. Und da sehen Sie, daß das Schöpfungsprinzip selbst eigentlich eine logische Selbstverständlichkeit ist: die Wirklichkeit zappelt zufällig herum, das muß sie tun, und dabei findet sie wahrscheinlich Dinge, wo die Sachen besser zusammenpassen, das heißt komplexeres. Und das ist der Aufstieg der Welt vom Urknall bis heute, zu immer höherer Komplexität.






Der entscheidende Punkt ist aber nun eben die Einsicht, daß hier eine Krise eingebaut ist. Wenn nämlich dieser Prozeß läuft in einem räumlich endlichen Bereich wie einem runden Planeten, der ja ziemlich gut isoliert ist gegenüber dem Rest der Welt – also, Kontakt mit fernen Zivilisationen aufzunehmen ist offensichtlich nicht so leicht, selbst wenn es die geben sollte, was auch nicht klar ist – in einem endlichen, isolierten Bereich, führt dieses Prinzip in eine Krise, deshalb nämlich, weil das Große, die Organisation im Großen, und die schnellere Innovationsgeschwindigkeit einen sogenannten „selektiven Vorteil“ haben in diesem verallgemeinerten Evolutionsprozeß. Also, wenn Gestalten gefunden worden sind im Raum der Möglichkeiten, von denen aus die Wirklichkeit schneller vorankommt in den Raum der Möglichkeiten zu immer neuem, wenn solche Gestalten gefunden worden sind, dann sind die eben die „Anführer“, und das heißt, das Schnelle hat einen Vorteil, es wird eben dann noch schneller und noch schneller. Immer, wenn was schnelleres gefunden wird, übernimmt das die Führung – ist ja logisch! Das kennen wir ja aus unserer eigenen gesellschaftlichen Entwicklung. Aber das ist ein allgemeines logisches Prinzip. Das Große und Schnelle hat einfach einen selektiven Vorteil, und deshalb muß es immer größer werden und immer schneller. Das können wir beobachten durch die ganze Entwicklung der Welt hindurch und vor allem in der Entwicklung auf der Erde, die ja nun ein relativ gut isolierter Bereich ist. Und das können Sie vor allem sehen in der Geschichte der Menschheit, in der Kulturgeschichte, wie eben die Ideen immer einheitlicher werden und das Fortschreiten zu neuen Ideen immer schneller, immer schneller, immer schneller. Und nun kommt eben der entscheidende Punkt: es gibt nicht nur eine Grenze durch die Globalität, also dadurch, daß die Erde nicht nach außen kann, sondern es gibt vor allem eine innere Grenze, die kritische Grenze der Innovationsgeschwindigkeit. Und was ist die? – Und darüber müßte eben mehr gesprochen werden, darüber spricht eigentlich niemand außer mir, erstaunlicherweise, obwohl das so leicht zu verstehen ist, nämlich, wenn Sie sich diese Gestalten im Raum der Möglichkeiten mal versuchen irgendwie zu veranschaulichen, alle die gelungenen Gestalten in der Welt: das sind ja alles zyklische Gestalten, die haben ihre typischen inneren Zeitabläufe; also beim Atom, da geht‘s sozusagen immer rundherum in einer bestimmten, sehr kurzen Zeit, und in einer Galaxie auch, und überhaupt alle komplexen Gestalten in der Welt, die sogenannten dissipativen Gestalten, das sind alles Kreisläufe, in denen bestimmte Dinge sich immer wiederholen. Und diese inneren Zeitmuster, also die Zyklusdauer, ist eine Eigenschaft jeder solchen Gestalt. Und wie nun die Wirklichkeit aufgestiegen ist bis hin zum Menschen, auch da ist natürlich eine solche typische Zeitskala. Was ist denn unsere eigene typische Zeit? Ich werde geboren, nehme alles auf, erst mal an genetischem Material und so weiter, bilde meinen Körper, fange an, Eindrücke aufzunehmen, aus meiner Umgebung, von meinen Eltern, von meiner Kultur, nehme das alles auf, was da ist, fange dann an, selber nachzudenken, und dann versuche ich das ein bißchen zu bearbeiten, so daß alles noch ein bißchen besser zusammenpaßt, mit dem zufälligen Gezappel, das in mir stattfindet, das nenne ich meinen freien Willen, daß ich unter all dem, was da geschieht, versuche, eine Auswahl zu treffen, die etwas noch besser zusammenpassendes schafft. Und dann, wenn ich das geschafft habe, ja, dann habe ich ein paar Nachkommen oder ein paar Schüler und gebe das weiter, und dann verschwinde ich wieder, und diese Zeit, meine Zeit, ist herum. Und die ist halt – Größenordnung – ein, zwei Generationen. Und das ist die typische Zyklusdauer des Menschen. Wenn Sie sich das mal systemtheoretisch überlegen, was das bedeutet, daß eine Gestalt, die führende Gestalt, es schafft, innerhalb dieser eigenen Zyklusdauer ganz woanders hin zu springen im Raum der Möglichkeiten, in eine völlig andere Umgebung, völlig andere innere Ideen – „unsere Zeit des rapiden Wertewandels“ nennen wir das dann immer so beschönigend, all diese schönen Schlagworte, aber was das bedeutet, will sich keiner klarmachen, nämlich, daß die führende Gestalt, deren Bewährung genau darin liegt, daß sie diesen Zyklus mehrfach durchlaufen kann, ohne daß alles zusammenbricht, daß die führenden Gestalten innerhalb dieser eigenen Zykluszeit versuchen, im Raum der Möglichkeiten ganz woanders hin zu springen, zu völlig anderen Gestalten, völlig unbekannten, unerprobten, unbewährten – das bedeutet den Zusammenbruch! Und dieser Zusammenbruch macht sich bemerkbar; nach Erreichen des Höhepunkts der globalen Beschleunigungskrise macht sich dieser Zusammenbruch genau dadurch bemerkbar, daß nun auf einmal nicht nur innerhalb der Gesellschaft und des Menschen und der Kultur alles nicht mehr so recht zusammenpaßt, sondern, daß dieses Nicht-zusammenpassen sich nun ausbreitet ins ganze Hinterland der Evolution, in die gesamte Biosphäre, daß eben jetzt stündlich zehn Arten aussterben und das Klima kaputt zu gehen droht und alles das, die Ozonschicht abgebaut wird. Und das sind, sozusagen, Symptome dieser fundamentalen globalen Beschleunigungskrise, die ich jetzt versucht habe im Wesen zu schildern.






M. LANGER: Weil Sie sagten: Überspringen der Generationen – mir fällt da die Gentechnik ein, die für so viel Fortschritt und Furore sorgt und auch für Ängste. Wenn ich Sie recht verstanden habe, wäre das zum Beispiel so einer dieser Problempunkte, daß jetzt Generationen übersprungen werden und nicht mehr, wie beim guten alten Mendel, mit entsprechender Zeit die verschiedenen Generationen erst mal gekreuzt werden um dann zu den Ergebnissen zu kommen.






P. KAFKA: Jaja, natürlich, die Gentechnik ist ja sozusagen der allermodernste Schritt in diesem Wahn, daß eben der Mensch nun den Genpool aller Arten vor sich hat und glaubt: ja, da langen wir halt hinein und suchen uns das beste raus und bauen daraus die Geschöpfe, die am besten zusammenpassen. Das ist eine Wahnvorstellung! Das kann nicht gehen, das muß schiefgehen! Da braucht man wirklich nicht Gentechnik zu verstehen, um das einzusehen, und deshalb haben ja auch so viele Leute Angst, weil sie irgendwie verstehen, daß das nicht gutgehen kann. Aber sie können das natürlich gegenüber den sogenannten Wissenschaftlern nicht gut begründen. Aber ich kann das den Wissenschaftlern gegenüber begründen – deshalb bin ich ja auch so unbeliebt. Es ist eine Wahnvorstellung, daß das gutgehen könnte. Natürlich machen wir damit lauter phantastische Dinge, die zunächst mal uns einen Vorteil bringen, vor allem, was die menschliche Gesundheit betrifft. Und da bin ich auch nicht grundsätzlich dagegen, sowas zu probieren. Aber wo es schiefgehen muß, das ist, wenn man nun in großem Maßstab weltweit künstliche Organismen in Eile freisetzt, die wahrscheinlich dann mit dem Alten und miteinander nicht zusammenpassen. Dann muß das schiefgehen. Das ist eine sehr, sehr schwierige Entscheidung, dann an bestimmten Punkten zu sagen: darf ich das, oder darf ich das nicht? Heute läuft das so, daß eine Ethik-Kommission einberufen wird, und dann soll der Bischof sagen, ob man das darf oder nicht. Das ist kindisch, das geht natürlich nicht.






M. LANGER: Der darf das vielleicht sagen, aber die Wissenschaftler werden sich letztlich doch durchsetzen.






P. KAFKA: Ja natürlich. Der arme Bischof muß einfach sagen: Ich versteh nichts davon, das müssen die Wissenschaftler entscheiden. Aber die Wissenschaftler vermeiden eben das Nachdenken über solche grundsätzlichen systemtheoretischen Fragen. Die sagen einfach: Wir machen‘s halt mal, wir haben doch den besten Willen und das beste Gewissen, also wird‘s schon gutgehen. Und das ist halt ein Irrtum. Es wird wahrscheinlich nicht gutgehen. Es kann gar nicht „wahrscheinlich“ gutgehen. Und insofern ist die Gentechnik einer der Frontpunkte, an denen alles schiefzugehen droht. Aber Sie sehen ja in dieser Diskussion, wie dann die Wissenschaft sich gegen diesen Vorwurf verteidigt, wenn Sie diese Verteidigungsreden hören: die Zeit, das Zeit-Argument, kommt überhaupt nicht darin vor. Man sagt dann: Ja aber es ist doch schon immer im Lebendigen alles ausprobiert worden, und es sind doch schon immer Gene sogar zwischen Arten gesprungen, das ist doch überhaupt nichts Neues, und der Mensch hat mit den Züchtungsversuchen seit der Jungsteinzeit doch ungeheuer viele neue Arten geschaffen, und so weiter – das ist ja alles richtig, aber: nicht in Eile. Das Problem ist die Eile. Und deshalb kann die Sache nicht gutgehen.






M. LANGER: Beschleunigung und Geschwindigkeit – andrerseits wird ja Langsamkeit dann auch mit Stillstand fast gleichgesetzt. Also, Sie empfehlen uns Langsamkeit. Aber heutzutage, wenn jemand – ich springe jetzt mal aufs Gesellschaftliche – im Berufsleben nicht bereit ist flexibel zu sein, im entsprechenden Tempo mitzumachen, dann gilt das ja als Stillstand, als das Gegenteil von Fortschritt.






P. KAFKA: Ja natürlich, wer nicht mitmacht, der fällt halt „hinten runter“ und ist untergegangen. Das ist schon richtig. Das ist das Wesen einer solchen Krise. Es wird halt immer schneller, immer schneller, und wer nicht mitmacht, wird abgehängt und von dem redet niemand mehr, der ist untergegangen. Sie finden, das liegt daran, daß eben diese kritischen Phänomene wirklich das Ganze beherrschen. Das heißt: es kann kein Mensch auch nur eine Lebensgrundlage finden, wenn er nicht mitmacht. Gut, in unserer Gesellschaft wir er noch gerade am Leben erhalten, indem man ihm Sozialhilfe gibt, aber die Vorstellung ist... der Hauptstrom ist eben dieser schnelle und das immer neue und immer bessere, und wer da nicht mitmacht, der wird zwar noch nicht umgebracht heutzutage in unserer Gesellschaft, aber im Prinzip ist doch die Idee: na ja, der paßt halt nicht dazu, der ist eigentlich überflüssig.






Was kann man dagegen sagen? Man muß sich, glaube ich, darauf besinnen, daß das wirklich Wertvolle am Menschen was anderes ist, nämlich das, womit sich im Grunde alle religiösen Denker und philosophischen Denker der letzten Jahrtausende beschäftigt haben, die nämlich gesehen haben: der Mensch hat etwas viel höheres erreicht als das, was in der lebendigen Welt oder gar in der technischen Welt möglich ist; der Raum der inneren Möglichkeiten jedes einzelnen Menschen, selbst eines Kranken und Schwachen, vielleicht eines Behinderten, eines seelisch behinderten, selbst das alles ist unendlich viel größer und weiter als der Raum der Möglichkeiten alles vorher dagewesenen. Und das ist sozusagen die Idee, daß der Mensch die Krone der Schöpfung ist. Und die Aufgabe, die wir als Menschheit haben, ist jetzt, die Menschheit so zu organisieren, daß wirklich jeder Mensch seine Lebensgrundlagen gesichert hat, um dann an seiner Front im Raum der Möglichkeiten suchen zu können nach dem Höheren. Und das heißt eben, jetzt wirklich dem Menschen die Freiheit organisieren, an sich und in sich und miteinander arbeiten zu können ohne abhängig zu sein von diesen Mächten, die immer schneller und immer größer werden wollen.






M. LANGER: Wie das gelingen könnte wollen wir nach der nächsten Musik versuchen zu klären; wir nehmen uns Zeit für die nächste Musik, und zwar – da müssen Sie mir helfen, ich kann‘s kaum aussprechen – wir hören ein jiddisches Lied und Tanz...






P. KAFKA: Ja, das ist eine amerikanische jiddische Gruppe. In Amerika haben ja sehr viele jiddisch sprechende Gesellschaften noch überlebt, während in Europa das Jiddische fast verschwunden ist, auch in Rußland spricht es kaum noch jemand. Aber ich wollte dieses Lied spielen, weil man daran sehr viel verstehen kann als Deutscher und eben sieht, daß diese jiddische Gemeinschaft von vielen, vielen Millionen Menschen in der Ukraine und Polen und Rußland, daß die 700 Jahre lang ihre Sprache behalten hat, nachdem sie aus Deutschland ausgewiesen worden war, und daß man sehen kann, daß eigentlich die Juden so ziemlich die treuesten Deutschen waren, die es überhaupt je gegeben hat. Und dieses Lied, das ist kein besonderes, das ist so ein Lied um zu sagen, wie schrecklich die Situation der Frauen eigentlich ist wenn sie heiraten und Kinder kriegen, wie traurig das eigentlich ist und wie sie von den Männern unterdrückt werden. Es heißt „A yor nokh mayn khasene“, nämlich: „Ein Jahr nach meiner Hochzeit“. Aber was daran so schön ist, ist eben, wie trotz dieses traurigen Textes dann zum Schluß das übergeht in einen sprühenden, fröhlichen Tanz. Das ist diese typische Eigenschaft dieser jiddischen Gesellschaft gewesen, die ja immer, unter Pogromen, verfolgt worden ist und gequält worden ist und trotzdem immer diese Fröhlichkeit behalten hat. Und deshalb hab ich dieses Liedchen ausgesucht.






(Einspielung)






M. LANGER: Sie haben den Deutschlandfunk eingeschaltet und hören die Zwischentöne; zu Gast bei uns Peter Kafka, der Fortschrittskritiker Peter Kafka. – Vor dieser Musik, Herr Kafka, haben wir davon gesprochen, oder Sie haben davon gesprochen, daß es nun darum geht angesichts dieser problemverpesteten Welt, unsere Freiheiten neu zu organisieren; auch das hat was mit Fortschritt zu tun, denn wir müssen von einem Zustand anscheinend doch irgendwie wegkommen. Also so viel können Sie auch gegen Fortschritt nicht haben. Um nochmal an die Gentechnik anzuknüpfen, die Impfstoffe der Medizin: ich bin heilfroh, daß es zum Beispiel gute Medikamente gibt und daß wir Impfstoffe gegen Krankheiten haben, die uns, der Menschheit, früher das Leben gekostet haben.






P. KAFKA: Ja natürlich. Aber es hat nicht die Menschheit das Leben gekostet...






M. LANGER: ...die Menschen! Pardon! Welch Versprecher!






P. KAFKA: Ja, aber das ist der entscheidende Unterschied! Das ist der entscheidende Unterschied: Das, was wir heute tun, droht der Menschheit das leben zu kosten.






Ich hab nichts gegen medizinische Forschung. Ich bin selber sehr krank und wäre froh, wenn es gegen bestimmte Dinge was gäbe. Aber das ist eine ganz andere Frage. Zunächst mal muß die grundsätzliche Einsicht da sein, daß der Mensch gelungen ist. Der Mensch ist eine ganz großartig gelungene Gestalt, er ist eben die höchste Gestalt, die bis jetzt im Reich der Möglichkeiten erreicht worden ist. Dieses Reich der Möglichkeiten, von dem ich immer spreche, das ist, was die Theologen den Himmel nennen oder die Geistige Welt oder was Platon das Reich der Ideen nennt. In dieses Reich der Möglichkeiten wächst die Wirklichkeit hinein, und sie hat mit dem Menschen ihren bisher höchsten Stand – „Stand“ ist übertrieben, es ist kein „Stand“ – sondern sie hat eben eine Front erreicht, und wir sind die Stelle, an der weiter gesucht wird, wo es hingehen könnte. Und nun ist eben die Frage: Können wir es uns leisten, nun in Eile ganz wo anders hin zu springen? Und da ist die Einsicht – aus reinen Wahrscheinlichkeitsgründen: Nein, das geht wahrscheinlich nicht gut, wir müssen uns mit dem bescheiden, im Wesentlichen, was wir sind. Und wir sind ja gut. Wir sind großartig gelungen, selbst wenn Menschen früh sterben müssen. Ja, schauen Sie sich an was es für Menschen gibt, von denen wir heute, nach Jahrtausenden, noch reden, die ganz früh sterben mußten, wo etwas gelungen war. Die reine Zahl der Lebensjahre sollten wir nicht zum Entscheidungskriterium machen, ob ein Leben gut oder schlecht war. Wir müssen auch bereit sein zu sterben, wenn wir damit verhindern, daß die Welt untergeht – sagen wir mal so. Jedenfalls, diese Vorstellung, daß das Hauptziel aller Menschen sein müßte, das Leben aller Menschen möglichst zu verlängern, die ist kindisch, die ist einfach kindisch, weil das geht nicht. Auf lange Sicht wird es gelingen, das Alter der Menschen immer noch ein bißchen weiter hinauszuzögern und vor allem in etwas lebenswerterer Form; es hat ja wenig Sinn, wenn nachher die Hälfte aller Menschen im Alzheimerstadium dahinvegetiert. Das ist ein ganz entscheidender Punkt, daß wir ausgehen von der Einsicht, daß der Mensch gelungen ist und gut ist. Und daß er damit genug zu tun hat.






M. LANGER: Also „gut“ jetzt nicht im moralischen Sinne?






P. KAFKA: Nein, in dem Sinne, wie es in der Bibel immer hieß: „Und siehe da, es war sehr gut“ – wenn ein Schöpfungstag zuende war. Daß nämlich die Dinge zusammenpassen auf eine lebensfähige Weise. Der Mensch hat, so wie er war, bisher zusammengepaßt – die Biosphäre ist noch nicht untergegangen. Trotzdem ist natürlich auch in der Bibel schon gesehen worden, daß da ein Problem ist. Alle Schöpfungsmythen haben diese Gestalt des Teufels, nämlich dieser Engel, der was Gutes will; der hat gesehen wie‘s funktioniert, sieht, wie die Materie funktioniert und das Leben und der Markt und die Werbung und so, und sagt: ja warum soll ich denn dann das alles nicht viel schneller können, da brauch ich doch nicht so lange zu warten. Und dann ist er bekanntlich runtergefallen und hat dann einen anderen Namen und heißt dann nicht mehr der Engel Luzifer, der „Lichtbringer“, sondern der Diabolos, der „Durcheinanderwerfer“. Da steckt ja diese Einsicht drinnen, daß es nicht genügt, die Gesetze zu kennen, die Naturgesetze, also wie‘s der Liebe Gott gemacht hat, warum das funktioniert, sondern daß man auch sehen muß, daß dafür Zeit nötig ist, nämlich lange Zeit des Suchens und Findens und Probierens. Deshalb dauert ein neuer Schöpfungstag so lange; ein ganzer Tag, das sind Milliarden Jahre, und danach steht dann erst da „Und siehe da, es war sehr gut“. Der neue Tag beginnt dann dadurch, daß mit dem Bewährten – nicht indem das Bewährte abgeschafft wird, sondern daß mit dem Bewährten, unter Erhaltung dieses Bewährten, das Bewährte probiert, ob es nicht noch auf raffiniertere Weise, mit noch schwächeren Wechselwirkungen, etwas Höheres an Komplexität erreichen kann. Das ist der nächste Schöpfungstag. Und wir sind, wie ich immer sage, am Siebten Tag, nämlich: das Ergebnis dieser Schöpfung, das Erreichen der biologischen und seelischen menschlichen Gestalt, das ist gelungen. Was noch nicht gelungen ist, ist, daß nun der Mensch mit seinen höchsten geistigen Fähigkeiten, mit dem, was wir das Bewußtsein nennen und woraus die Wissenschaft entspringt, daß wir mit dem jetzt auch ins Gleichgewicht kommen mit diesen Ergebnissen der früheren Schöpfungstage. Das haben wir noch nicht geschafft. Wir benützen diese Fähigkeiten, um die Ergebnisse dr früheren Schöpfungstage durcheinanderzuwerfen und abzubauen. Und das ist jetzt eben die Aufgabe, daß der Mensch sieht, daß er jetzt an dem arbeiten muß, wo er wirklich vorankommen kann ohne das Frühere zu beschädigen und kaputtzumachen. Das heißt: er muß an seinen inneren Fähigkeiten arbeiten, seinen seelischen und geistigen Fähigkeiten. Dort kann er ziemlich schnell vorankommen – natürlich auch nicht beliebig schnell, aber eben nahe dieser kritischen Geschwindigkeit: er kann innerhalb einer Generation seelische Entwicklung schaffen und geistige Schritte vollbringen, das kann er! Da kann er schnell voran, und dort gibt es Fortschritt, dort wird es weiter Fortschritt geben.






Natürlich, Fortschritt ist was unvermeidliches, das liegt ja im Wesen der Zeit. Der Sinn der Zeit ist das Werden. Das ist der Fortschritt. Aber die Frage: An welcher Front? – Natürlich nicht an der Front, an der die Ergebnisse der früheren Schöpfungstage abgebaut werden, sondern dort, wo dem Menschen wirklich das Reich der Möglichkeiten offensteht, voranzukommen ohne das andere kaputt zu machen. Deshalb sage ich: Die Selbstorganisation der menschlichen Gesellschaft, die uns jetzt bevorsteht, muß darin liegen, daß der Mensch, daß die Gesellschaft die Voraussetzungen schafft, daß alle Menschen vor allem an dieser Front, die ihnen zusteht, leben und arbeiten können – und nicht an der Erzeugung von Schund, der morgen schon wieder weggeschmissen wird, und der die ganze Welt vergiftet, verpestet, und die Arten ausrottet und das Klima umwirft und so weiter.






M. LANGER: Da bemühen sich ja auch einige Leute sehr heftig und angestrengt darum, daß die Folgen unseres Handelns, die nicht so gelungen zu sein scheinen, gemindert werden – Stichwort „Umweltschutz“, Stichwort: demnächst wird es das 3-Liter-Auto geben, wir sorgen dafür, daß wir nicht mehr so viel Kohlendioxid in die Atmosphäre pusten...






P. KAFKA: Da sorgen wir im Moment leider immer noch nicht dafür. Jeder Deutsche bläst im Moment täglich die Hälfte seines eigenen Körpergewichtes an Kohlendioxid in die Atmosphäre, und der Amerikaner sogar das ganze eigene Körpergewicht. Und wir haben das immer noch nicht wirklich abgebaut. Das müssen wir im Laufe von ein, zwei Generationen praktisch auf Null bringen und dabei zur Sonnenenergie übergehen. Und daran arbeiten auch viele Menschen! Das stimmt, daß darüber nachgedacht wird und daran gearbeitet wird, und da sehen wir natürlich auch, daß die Sicherung der Lebensgrundlagen selbstverständlich auch technischen Fortschritt erfordert: wir brauchen den Übergang von den zerstörerischen Techniken zu den sogenannten nachhaltigen Techniken, eben die Dinge, die Lebensweisen, die nicht die Welt kaputt machen. Da ist eine Menge Wissenschaft und Technik dafür nötig. Daß man mich „Wissenschaftskritiker“ oder „Fortschrittskritiker“ nennt, das darf man nicht so verstehen, daß ich dafür spreche, daß wir alle unter die Brücken zum Schlafen gehen sollen. Das geht natürlich nicht, dann geht die Welt natürlich trotzdem kaputt.






(Einspielung Bob Dylan, „Not Dark Yet“)






M. LANGER: „It‘s not dark yet“ – „Noch ist es nicht dunkel“. Bob Dylan sang hier; ausgesucht hat sich dieses Lied Peter Kafka für diese Zwischentöne. Herr Kafka, ich möchte nicht lange über Bob Dylan reden, den kennt jeder und weiß auch, daß das ein ganz hervorragender „Protestsänger“ ist. – Viele Menschen habe es doch schon kapiert, wie ernst die Lage ist, das ökologische Bewußtsein ist ja da, ich meine wir Deutsche, wir trennen ja schon fast tausendprozentig unseren Müll und das kann man ja auch manchmal sehr spaßig sehen, und als der Rinderwahn debattiert wurde, BSE, gaben die Mütter ihren Kindern gar keine Gummibärchen mehr weil da das auch mit verwendet wurde in der Produktion. Andere Länder, wie Frankreich, die lachen ja schon über uns, wie tausendprozentig wir mit diesem ökologischen Bewußtsein durchs Leben gehen. Aber trotzdem scheint‘s noch nicht so ganz zu klappen...






P. KAFKA: Nun, einmal ist natürlich das Aufhängen des ökologischen Bewußtseins an der eigenen Gesundheit nicht ganz der richtige Schritt, weil die meisten ökologischen Probleme sind schlimmer als der Verlust der eigenen Gesundheit. Aber das ist natürlich den Menschen schwer beizubringen. Der wichtigste Punkt ist der, daß die ökologischen Einsichten in unserer Gesellschaft keine Macht und Durchsetzungskraft gewinnen können, weil die sogenannte „Wirtschaft“ alles bestimmt.






M. LANGER: Aber es gibt eine neue rot-grüne Bundesregierung, die versucht, eine ökologische Steuerreform aufzubauen, zum Beispiel.






P. KAFKA: Aber Sie haben ja gesehen, wie das läuft: da entsteht eine derartige Hetze dagegen von seiten der sogenannten „Wirtschaft“, daß wirklich fast alles wieder verschwunden ist, und das, was übrig geblieben ist, ist zum größten Teil das, was nicht richtig ist und was schlecht gemacht ist und in Eile gebastelt ist, zusammengebastelt ist, zusammengestöpselt.






M. LANGER: Na, dann sagen Sie, was richtig ist!






P. KAFKA: Wir können zurückgehen auf das, was ich gerade vorhin gesagt hatte: die Aufgabe ist, die Gesellschaft so zu organisieren, daß die Lebensgrundlagen aller Menschen gesichert sind, ohne daß sie gezwungen sind, Unsinn zu tun. Und das ist eben heute nicht so. Fast alle Menschen sind heute gezwungen, schädliche Dinge zu tun, um überhaupt zu überleben. Sie können sich überlegen welchen Job auch immer, fast alle Jobs sind im Grunde ökologisch und auch gesellschaftlich und geistig schädlich. Es gibt fast keine Berufe mehr, die ich meinen Kindern empfehlen würde, mit ganz wenigen Ausnahmen. Natürlich, Ärzte und Lehrer sind nach wie vor wichtig. Aber wenn man sich dann wieder anschaut, welche Techniken die Ärzte verwenden müssen und was die Lehrer den Kindern beibringen sollen, dann stimmt selbst das nicht mehr...






M. LANGER: Physiker, Hörfunk-Journalisten...






P. KAFKA: Ja, die meisten Tätigkeiten, die heute gemacht werden, sind im Grunde nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich. Und trotzdem müssen ja alle Menschen, irgendwie, angeblich eine Arbeit haben, weil sie ja sonst keine vernünftige Lebensgrundlage haben und aus der Gesellschaft ausgestoßen sind. Der entscheidende Punkt für die Zukunft ist, daß in einer Gesellschaft, die so hoch entwickelt ist wie die westlichen Industriegesellschaften, daß in diesen Gesellschaften es nicht sinnvoll ist, die Arbeit zur Grundlage des Lebens zu machen. Das sehen ja heute sogar schon Erzliberale ein wie Ralf Dahrendorf zum Beispiel, der also nun sicher kein Linker ist, der viele Jahre Direktor der London School Of Economics war, jetzt Mitglied des britischen Oberhauses, Sir Ralf Dahrendorf – der sagt auch: in einer Gesellschaft, die so hoch entwickelt ist, müßte eigentlich ein „Bürgergeld“ eingeführt werden, mit dem zunächst einmal die wesentlichen Bedürfnisse aller Menschen gedeckt sind – aus Steuereinnahmen! Also: die gesamte Gesellschaft muß finanzieren die Erziehung der Kinder, die Bildung der Kinder, die Gesundheitsfürsorge für die Kranken, die Pflege für der Alten, all diese allerwesentlichsten Grundlagen, und natürlich die allerwesentlichsten Lebensgrundlagen aller Bürger überhaupt – ein Bürgergeld. Und darüber hinaus kann man dann eine freie Wirtschaft haben, eine wirklich freie Wirtschaft, in der man nämlich nicht mehr das Steueraufkommen abhängig macht von der Arbeit. Man möchte ja, daß die Menschen was tun, was vernünftiges tun. Man möchte nur nicht, daß die Menschen Unsinn machen und was schädliches anrichten. Also sollte man doch Steuern zweckmäßig aufhängen an dem, was man als schädlich erkannt hat, und nicht an der Arbeit oder an der Ernährung meiner Kinder, also immer, wenn ich den Kindern was zu essen kaufe, zahle ich Mehrwertsteuer – das heißt ja, die Gesellschaft nimmt davon Geld, daß Kinder erzogen werden. Das ist doch ein Schwachsinn! Hängen wir doch die Steuern an dem auf, was als schädlich erkannt ist! Nun habe ich also dieses Konzept, in Schlagworten, entwickelt, daß ich sage: laß uns doch alle die heutigen Steuern mal abschaffen. Überlegen wir doch mal, ob das ginge: alle heutigen Steuern abzuschaffen und statt dessen nur Steuern auf Schädliches, also auf etwas zu erheben, was von der Mehrheit der Menschen als schädlich erkannt ist. Da wird natürlich immer drüber Streit sein, was denn schädlich sei, darüber, daß die heutige fossile Kohle-, Öl- und Gasverbrennung schädlich ist, darüber sind sich im Grunde jetzt wirklich 99 Prozent der Menschen einig auf der ganzen Erde. Also laß uns doch mal die Steuer aufhängen an diesem verrückten Energieverbrauch – natürlich nicht über Nacht, aber auf eine Sicht von ein paar Jahrzehnten eine Steuer einführen, die zunächst mal nur auf solche als schädlich erkannten Dinge ist. Und weil die Energie das einfachste ist, nehmen wir die Energie. Wie hoch wäre die Steuer auf Energie?






M. LANGER: Das ist im Grunde die Idee der Ökosteuer.






P. KAFKA: Das ist die Idee der Ökosteuer. Aber die wird derartig verwässert und ins Lächerliche gezogen; deshalb sag ich dieses Beispiel hier, damit mal klar wird, wie ungeheuerlich das Steuerungspotential wäre, wenn wir eine solche Idee wirklich politisch verwirklichten. Wenn wir alle heutigen Steuern abschaffen wollten, die Einkommensteuer, die Mehrwertsteuer, sämtliche Steuern von Bund, Ländern und Gemeinden und Europa, alles weg, wie hoch wäre dann eine Steuer allein auf den Verbrauch von fossiler Energie? Und siehe da, das wäre in der Gegend von 20 Pfennig oder 22 Pfennig pro Kilowattstunde Primärenergie; wer weiß, was Primärenergie ist, der weiß, in einer Kilowattstunde Strom sind drei Kilowattstunden Primärenergie drinnen, ungefähr, und in einem Liter Öl stecken ungefähr zehn Kilowattstunden Primärenergie. Das heißt: wenn wir alle Steuern abschaffen, und statt dessen 60 Pfennig auf die Kilowattstunde Strom und 2,20 Mark auf den Liter Öl und entsprechend Kohle und Gas und so weiter tun, dann sind alle deutschen Steuern weg. Da sehen Sie das Steuerungspotential in dieser Steuer.






Natürlich würde das nicht auf diese simple Weise gehen, denn es gibt auch noch andere, viele schädliche Dinge, wie auch die Entnahme von Frischwasser aus der Erde oder von Blei aus der Erde, das nachher in der Luft zerstäubt wird, und so weiter, da gibt es ungeheuer viele schädliche Dinge. Im allgemeinsten Sinne würde ich das nennen eine Minderwertsteuer, im Gegensatz zur Mehrwertsteuer, oder Entropiesteuer. Also das ist die richtige Steuerungsidee: alle Steuern daran festmachen. Und dann ist das Steueraufkommen so hoch, daß wir daraus sogar ein Bürgergeld finanzieren können; die ganzen heutigen Sozialabgaben werden auf diese Weise finanziert. Und dann entsteht eine freie Gesellschaft, in der jeder tun und lassen kann – sofern es nicht Schaden anrichtet.






M. LANGER: Wir leben in einer Industriegesellschaft, immer noch, auch wenn wir uns auf die vielbeschworene Informationsgesellschaft zubewegen. Was machen wir mit den Arbeitsplätzen? Ich meine wir brauchen Energie, dieses Land braucht Energie, und zwar nicht zu knapp.






P. KAFKA: Natürlich. Die Menschheit kann ganz wunderbar von der Sonnenenergie leben, das ist gar keine Frage, das ist lange bekannt. Nur, die jetzigen Umstände sind so, daß die Strukturen sich weiter immer am Leben erhalten wollen und deshalb alle Änderungen behindern. Das ist diese sogenannte „Reformfeindlichkeit“. Die liegt natürlich auch im industriellen und vor allem im gesamtwirtschaftlichen und finanziellen System. Es scheint unmöglich zu sein, etwas zum Vernünftigen hin zu ändern, weil eben Privilegien verloren gehen würden. Diese Gesellschaft, die ich gerade versucht habe zu schildern...






M. LANGER: Da würde ich sofort sagen: das Privileg, einen Arbeitsplatz zu haben, beispielsweise.






P. KAFKA: Moment mal! Der Arbeitsplatz, der ist heute deshalb so wichtig, weil er die Lebensgrundlage ist. Die Menschen wollen natürlich auch dann arbeiten, in einer solchen Gesellschaft, selbstverständlich werden die notwendigen industriellen Güter fabriziert und es wird auch die Energie dafür bereitgestellt. Auf jedem Quadratmeter hier in München liefert die Sonne jedes Jahr den Gegenwert von zehn Litern Öl ab, im Jahr auf jedem Quadratmeter; wenn wir davon ein paar Prozent mit technisch vernünftigen und ökologisch vernünftigen Methoden gewinnen, haben wir unseren gesamten Energiebedarf, und das geht! Es ist längst bekannt, daß das geht. Es heißt dann: das geht nicht wirtschaftlich – ja weil eben das heutige Wirtschaftssystem das nicht finanzieren kann und will. Aber selbstverständlich geht das. Wenn wir auch nur so viel Geld reinstecken würden, wie wir ins Rauchen stecken, würde das schon gehen. Das ist gar keine Frage. Das geht, und das muß nur zu einem politischen Ziel gemacht werden. Aber die entscheidende Frage ist eben: Warum gelingt es nicht, obwohl viele Menschen das verstanden haben? Wie ist eigentlich die Macht der Wirtschaft organisiert? Diese falschen Mächte, wie sind die eigentlich organisiert? Darauf muß ich ganz kurz noch eingehen.






Der entscheidende Punkt ist ja: der sogenannte „Kapitalismus“, der liegt ja in der Idee, daß wenn jemand heute etwas hat, dann hat er nächstes Jahr ein paar Prozent mehr. Das ist die Idee der Kapitalrendite, und die Idee des Wirtschaftswachstums hängt ganz eng damit zusammen. Es ist die Vorstellung, daß das Eigentum immer mehr wird und daß man aus diesem Eigentum Einkommen haben kann. Es ist also die Idee des leistungslosen Einkommens. Und ausgerechnet in einer Gesellschaft, in der diese Idee so ungeheuer hoch gehängt ist, die Idee des leistungslosen Einkommens, in dieser Gesellschaft reden dann die Leute, die diese leistungslosen Einkommen haben, ständig davon: Leistung muß sich wieder lohnen! Nun, Leistung lohnt sich überhaupt nicht bei uns! Die einzige „Leistung“, die sich bei uns wirklich lohnt, ist das Haben, das Haben des „Vermögens“. Das Vermögen wächst und wächst und wächst, und es wächst exponentiell an; seit der Währungsreform vor fünfzig Jahren sind die Vermögen ungeheuerlich angewachsen, sind viel größer als heute in den Zeitungen manchmal angegeben wird. Und diese Vermögen, die fesseln die Wirtschaft, fesseln die ganze Gesellschaft, nämlich durch den Zwang, daß die Vermögen immer weiter wachsen müssen, angeblich. Das heißt, dieser Wachstumszwang der Vermögen, der schluckt – Sie können sich das ausrechnen! – jeden Tag ungefähr an die zwei Milliarden Mark in der deutschen Gesellschaft. Die deutsche Gesellschaft bringt jeden Tag ungefähr zwei Milliarden Mark auf an „Sozialhilfe für die Reichen“, könnten wir sagen. Das ist die Subventionierung des Kapitals.






M. LANGER: Aber entschuldigen Sie, auch der Durchschnittsbürger freut sich über Zinsen fürs Sparbuch und besitzt Aktien mittlerweile.






P. KAFKA: Wenn er keine Kinder hat vielleicht. Aber Sie müssen ja die Gesamtrechnung dann machen, nämlich: wieviel zahlt er zur Bedienung des Kapitals der ganz Reichen, und wieviel kriegt er von den noch Ärmeren an Zinsen? Wenn Sie diese Rechnung machen, dann sehen Sie, daß der Teil der Bevölkerung, der an diesem System verdient, ganz winzig klein ist, das sind ganz wenige Prozent der Bevölkerung. Und die gesamte Gesellschaft arbeitet daran, das Kapital zu subventionieren und lamentiert dann darüber, daß wir es schaffen müßten, Subventionen abzubauen. Darüber muß wieder gesprochen werden. Das ging bis vor kurzem ja nicht. Bis vor zehn Jahren hieß es, wenn man darüber sprechen wollte: „Dann geh doch rüber!“ – Nun, das ist jetzt vorbei, und deshalb wird diese Diskussion neu anfangen. Ich weiß, daß ich mich damit zunächst mal lächerlich mache in dieser Gesellschaft, weil eben die sogenannte „Wirtschaft“ behauptet es gäbe keine anderen Möglichkeiten. Aber ich kann Ihnen nur dringend empfehlen, stellen Sie sich mal den Raum der Möglichkeiten vor und überlegen Sie sich, daß es doch wohl mehr als zwei Möglichkeiten gibt, und deshalb bin ich eben auch noch immer optimistisch, daß nämlich diese Dinge jetzt wieder ins Gespräch kommen werden; dadurch, daß die Katastrophen und Mißstände immer mehr zunehmen, wird diese Diskussion über die Selbstorganisation der menschlichen Gesellschaft auch im wirtschaftlichen Bereich neu beginnen.






M. LANGER: Herr Kafka, ich hätte noch viel Widerspruch anzumelden und wir könnten sicher nochmal anderthalb Stunden reden zu diesem Thema. Ich möchte den Hörerinnen und Hörern nochmal den Titel Ihres Buches nennen, in dem vieles von dem, was Sie jetzt angesprochen haben, nachzulesen ist: Gegen den Untergang. Schöpfungsprinzip und globale Beschleunigungskrise heißt es. Erschienen ist es im Hanser Verlag München, Kostenpunkt 28 Mark, das ist ja sogar noch wohlfeil.






Herr Kafka, herzlichen Dank für den Besuch hier bei den Zwischentönen.






P. KAFKA: Ich danke auch.






M. LANGER: Wir hören zum Schluß noch eine Musik von Alfred Schnittke, den haben Sie uns noch mitgebracht, und zwar was?






P. KAFKA: Das ist – zur Erinnerung an den Tod seiner Mutter hat er das geschrieben – das ist der zweite Satz aus In memoriam. Der zweite Satz heißt Tempo di valse.






M. LANGER: Danke schön.