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Annäherung
an den Risikobegriff
Erinnert sich noch
jemand an die Katastrophe beim Flugtag 1988 in Ramstein, als zwei
Jagdflugzeuge sich berührten und in die Zuschauermassen
stürzten? An die hundert Menschen starben sofort oder nach
wochenlangem Todeskampf, und wohl noch mehr wurden für den
Rest ihres Lebens entstellt. Viele meinten damals, solche
Veranstaltungen dürften nicht mehr zugelassen werden. Der
damalige Präsident des Deutschen Aero-Clubs und frühere
Chef der Lufthansa, Herbert Culmann, aber begriff sofort, wie
kleinmütig ein solches Verbot gewesen wäre. »Das
Leben steckt voller Risiken«, sagte er, und: »Niemand
verbietet deshalb das Leben, weil es das Risiko birgt,
gelegentlich vorzeitig zu enden«. (2)
Ja, ja –
das Leben spielt nun einmal so. Es läßt Flugzeuge
spielerisch im Zentimeterabstand aneinander vorbeirasen –
zur Steigerung der Lebensfreude von Hunderttausenden. Das
Todesrisiko war dabei, nachträglich betrachtet, nicht hoch.
Hundert von etwa dreihunderttausend Zuschauern – das
bedeutete für den einzelnen eine Wahrscheinlichkeit von etwa
3 x 10 hoch -4, also wenig mehr als doppelt so viel wie das
Risiko eines »durchschnittlichen deutschen Einwohners«,
innerhalb eines Jahres durch einen Verkehrsunfall zu sterben:
10000 geteilt durch 80 Millionen sind 1,25 x 10 hoch -4. Anders
herum ausgedrückt: Man müßte 8000 Jahre leben, um
eine vernünftige Chance zu haben, so den Tod zu finden. Man
lebt aber nur etwa ein Hundertstel dieser Zeit, und deshalb ist
das Verkehrsrisiko selbstverständlich akzeptabel. Jeder, der
sich das Augenmaß bewahrt hat, wird einsehen, daß ein
Tempolimit oder eine Senkung der Trunkenheitsgrenze unter 0,8
Promille nicht nur deutlich schwerer wiegende
volkswirtschaftliche Schäden verursachen würde als ein
paar tausend Tote pro Jahr, sondern daß vor allem auch der
Verlust an Lebensfreude, der ja Milliarden von Lebensjahren der
Bevölkerungsmehrheit beträfe, durch den Gewinn von
hunderttausend Lebensjahren einer Minderheit nicht wettzumachen
wäre.
Ein anderes typisches Risiko für den
durchschnittlichen Deutschen, nämlich im zwanzigsten
Jahrhundert durch Kriegseinwirkung ums Leben zu kommen, war aufs
Jahr gerechnet ebenfalls nicht viel höher als das im
Straßenverkehr (falls nicht noch in den nächsten vier
Jahren ganz Unerwartetes geschieht). Schätzen wir ganz grob
10 Millionen Kriegsopfer unter den etwa 200 Millionen Deutschen
in diesen hundert Jahren, so kommen wir auf ein Risiko von etwa 5
x 10 hoch -4 pro Person und Jahr. Auch das schien der
überwältigenden Mehrheit offenbar noch
akzeptabel.
Doch selbst das heute so penetrant verteufelte
Risiko starker Raucher, an Lungenkrebs zu sterben, ist kaum
zehnmal höher. Man muß den Jahreswert schon mit 40
Jahren Raucherleben multiplizieren, um auf etwa 20 Prozent zu
kommen. Erst damit liegt man in der Nähe des Risikos, daß
ein durchschnittlicher Nichtraucher durch Krebs beliebiger Art
stirbt. Dank medizinischem Fortschritt werden eben viele von uns
alt, und so ist Krebs selbst für gesund Lebende eine der
normalsten Todesursachen geworden. Obendrein tritt ja auch der
Raucherkrebs häufig erst in höherem Alter auf. Zählt
man also nicht einfach die Todesfälle, sondern – viel
sinnvoller – die verlorenen Lebensjahre, so schneidet das
Rauchen wohl kaum noch schlechter ab als der Krieg...
Für
den einzelnen Raucher freilich mag die eigene Widerstandskraft
sogar ein wichtigerer Faktor sein als sein Laster – und sie
hängt wohl als Ursache wie als Wirkung auch mit der
Lebensfreude zusammen. Sie rauchen gern? Wer weiß, ob Sie
dadurch nicht sogar Ihr Leben verlängern! Kennen Sie nicht
einen lebensfrohen Neunzigjährigen, der sich regelmäßig
nach dem Essen sein Pfeifchen stopft? Warum sollten nicht auch
Sie zu den Ausgezeichneten gehören? Den hoffnungsvollen
Glauben an die eigene Bevorzugung nennen Risikoforscher
sarkastisch das »Nicht-Ich-Syndrom«. Aber ist er
nicht ein Zeichen seelischer Gesundheit? Neurotisch ist es doch
eher, hinter jedem innovativen Molekül ein Gift und hinter
jedem der unvermeidlichen kleinen Zwischenfälle im
Zivilisationsprozeß den Weltuntergang zu wittern! Müssen
wir uns wirklich immer wieder über den jeweiligen
»Schadstoff der Woche« ängstigen, den uns der
Sensationsjournalismus auftischt? Wie recht doch Herr Culmann
hatte! Es gibt eigentlich kaum größere Risiken als das
normale Leben, das ja stets mit dem Tode endet (– mindestens
bis die Wissenschaft auch dieses Problem endlich gelöst
hat)! Warum nur haben viele Leute trotzdem dauernd so viel Angst
vor relativ harmlosen Neuerungen? Sind die Menschen so
unvernünftig? Oder sind sie von Panikmachern aufgehetzt, die
irrationale Ängste anfachen, um darauf ihr politisches
Süppchen zu kochen?
Schon immer tauchten bei der
Verbreitung von Neuerungen Bedenken auf. Doch mußten sich
die Meinungsführer und Machthaber früher nicht so sehr
damit plagen wie heute. Diese waren ja, mindestens seit das
Zeitalter des Rationalismus anbrach, oft eng verschwistert mit
den »Verkäufern« des Fortschritts, der sich
sonst gar nicht hätte verbreiten können. Erst die
Demokratie schuf durch zunehmenden politischen Einfluß
irrationaler Massen die Gefahr, daß risikofreudige
Innovationen gehemmt werden. Kaum auszudenken, wie der
Fortschritt sich hätte verzögern können, wenn man
schon vor Erfindung der Eisenbahn die Demokratie, gar samt
Frauenstimmrecht und Volksentscheid, eingeführt hätte!
Heute zeichnet sich ja ab, daß wegen unbestimmter Ängste
ganze wissenschaftlich-technische, ja auch militärische und
sogar wirtschaftliche Entwicklungen abgebrochen und womöglich
demnächst ganz zurückgenommen werden
müssen.
Allerdings dreht sich die Diskussion dabei
kaum je um Zahlen wie die eben vorgestellten. Der wachsende
innere Widerstand gegen den Fortschritt scheint vielmehr ähnlich
verschwommen motiviert wie das traditionelle Vertrauen in ihn,
das ja auch nie ganz verschwunden ist. Quantitative
Risikobetrachtungen stammen durchweg nicht von den Ängstlichen,
sondern von Leuten, die rechnen können und etwas verkaufen
wollen. Die Verwissenschaftlichung soll dazu verhelfen, die
»Emotionen« in den Griff der Experten zu bringen.
Warum gelingt das so schlecht?
Eine von der EG-Kommission
beauftragte Wissenschaftlergruppe, (3) die sich mit der Akzeptanz
von Atomkraftwerken beschäftigte, zeigte sich besonders
beeindruckt von einer amerikanischen Studie. Deren Ergebnisse, so
meinen sie, »zeigen, daß die Kernenergie bezüglich
der Risikoakzeptanz eine einzigartige Stellung einnimmt. Die
Gründe für die Antipathie gegen dieses Risiko müssen
psychometrischer Natur sein. Die tief verwurzelte Ablehnung mag
mit dem gewaltsamen Beginn der Kernspaltung im Zweiten Weltkrieg
zu tun haben oder mit Angst oder mit einer Reihe anderer
unerkannter Faktoren. Wir konnten keinerlei spezifische Faktoren
identifizieren, die das Phänomen erklären würden.
Weitere Studien werden nötig sein, um es zu
verstehen.«
Drängt sich da nicht der Wunsch
nach ganz anderen »psychometrischen« Studien auf?
Sollte man nicht lieber an solchen Wissenschaftlern nach den
mentalen Vorgängen fahnden, die es ihnen unmöglich
machen, Gründe des Widerstandes gegen die großtechnische
Nutzung der Kernenergie und andere Abenteuer wahrzunehmen? Wären
nicht diese von der Industrie und ihren politischen Freunden mit
der Risikoanalyse beauftragten Forscher selbst ein faszinierender
Forschungsgegenstand für Psychologen und Soziologen? Sie
scheinen wirklich nicht zu verstehen, warum die Leute ein Risiko
nicht endlich zufrieden akzeptieren, wenn man es nach
hinlänglicher Mittelung als kleine Zahl präsentiert.
»Woran sollte man denn noch glauben, wenn nicht an Zahlen?«
fragen sie – aber das zeigt auch, warum es sich kaum lohnt,
sich ernsthaft mit seelischen Regungen solcher Leute zu
beschäftigen, also etwa nach entwicklungspsychologischen,
charakterlichen oder moralischen Wurzeln ihrer Gewissenlosigkeit
zu suchen, die doch nur auf einem Mangel an glaubhaften Zahlen
beruht. Werfen wir lieber einen Blick auf die Methoden, mit denen
sie versuchen, sich und uns endlich ein zuverlässigeres,
computergestütztes Künstliches Gewissen zu
schaffen, das jener Künstlichen Intelligenz
angemessen wäre, die ohnehin bald die Herrschaft wird
übernehmen müssen. (Hier kann ich mir nicht verkneifen,
wieder daran zu erinnern, daß die übliche englische
Abkürzung AI – für artificial intelligence
– sich auch als artificial imbecility –
Künstlicher Schwachsinn - deuten läßt...)
Auf
dem Verordnungsweg zum Stand der Wissenschaft
Fassen
wir für Leser, die es nicht gewohnt sind, in Zahlen zu
denken, noch einmal zusammen: Wenn wegen zu hoher Komplexität
eines Systems die Ursachen und Wirkungen nicht in allen Details
analysierbar sind, so versucht man, die erwartete Häufigkeit
eines Schadens als Wahrscheinlichkeit zu definieren – eben
als sogenanntes Risiko. Die Wahrscheinlichkeit, daß bei
einem bestimmten Tun oder Lassen gewisse unerwünschte Folgen
(Tod, Krankheit, Vermögensschäden etc.) auftreten, kann
etwa pro Einzelereignis, pro Jahr oder pro mittlerer Lebensdauer
angegeben werden. Ein Risiko von einem Tausendstel oder l0 hoch
-3 pro Jahr bedeutet beispielsweise, daß von tausend
Teilnehmern einer gewissen Aktivität jährlich
durchschnittlich einer betroffen ist, daß also der einzelne
im Durchschnitt wahrscheinlich etwa tausend Jahre warten muß,
bis er dran ist – oder daß von 365000 Menschen
durchschnittlich jeden Tag einer dran ist. Die Tabelle zeigt
nochmals einige Beispiele für die Größenordnung
des Todesrisikos durch verschiedene Einwirkungen, teils im Mittel
über alle Einwohner, teils im Mittel über eine gewisse
Gruppe.
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Abgesehen
von den letzten drei Zeilen sind die Zahlen letztlich durch
Abzählen wirklicher Ereignisse gewonnen. Beispiel: Wie viele
Leute gingen pro Jahr klettern, und wie viele verunglückten
dabei tödlich? Das macht sofort klar, daß das mittlere
Risiko für den einzelnen nicht maßgeblich sein muß.
Er kann sich auch bei manchen risikoreichen Aktivitäten noch
immer so verhalten, daß sein persönliches Risiko weit
unter dem mittleren bleibt – beispielsweise durch größere
Vorsicht als Fußgänger oder Autofahrer, als Kletterer
am Berg oder als Benutzer einer Leiter beim Fensterputzen und
Reinigen der Dachrinne. Auch bei Krebs bestehen große
individuelle Unterschiede in Empfindlichkeit und Abwehrstärke
und natürlich vor allem in der Häufigkeit und
Intensität des Kontakts mit Karzinogenen, so daß der
einzelne sein Risiko durch die Lebensweise beeinflussen kann. Nur
sind mögliche Vorsichtsmaßnahmen hier nicht immer so
einleuchtend und allgemein anerkannt wie etwa beim Rauchen oder
Klettern – nämlich: »Bleiben lassen!« Beim
Kriegführen, beim Betrieb von Atomreaktoren, bei Nutzung
chemischer und genetischer Techniken, ja bei fast allen
gesellschaftlichen Unternehmungen ist das schwieriger. Hier steht
die Aussicht auf Beute oder auf anderen gewaltigen
gesellschaftlichen Nutzen einer so einfachen Empfehlung
entgegen.
Die Tabelle erinnert uns aber auch an einen
anderen wichtigen Unterschied: Die in den letzten drei Zeilen
angeführten Risiken (wie auch die Risiken vieler anderer
neuer Techniken) sind von anderer Art als die weiter oben
genannten. Sie lassen sich nicht durch Abzählen wirklicher
Ereignisse bestimmen. Entweder weil viele verschiedene Ursachen
ähnliche Phänomene hervorbringen (wie beim Krebs, wo
eine Zuordnung immerhin ansatzweise durch umfangreiche
epidemiologische Untersuchungen möglich wäre), oder
weil die Ereignisse zwar folgenreich, aber doch sehr selten sind
(wie Reaktorkatastrophen), oder weil viele unabsehbare Folgen
erst nach Jahrzehnten sichtbar werden (wie bei der Anreicherung
von Spurengasen in der Atmosphäre und von Giften in Böden
und Gewässern), oder weil die Anwendung der entsprechenden
Technik gerade erst begonnen hat (wie bei der Gentechnik). Die
Wahrscheinlichkeit von Schäden ist dann zunächst völlig
unbekannt.
Das ist in einem Rechtsstaat untragbar. Hier
muß jedes Handeln justitiabel sein! Wie sollen denn die
Behörden Anlagen und Verfahren genehmigen, und wie sollen
Richter diese Genehmigungen beim Widerspruch einzelner
Betroffener oder Fortschrittsfeinde beurteilen können, wenn
die möglichen Folgen völlig unbekannt sind? Genehmigen
will und muß man doch schließlich – sonst würde
sich das Kapital einfach einen anderen Standort für jene
Aktivitäten suchen – und dann wohl bald auch für
alle anderen! Damit aber wären nicht nur Leben oder
Gesundheit einer Minderheit bedroht, sondern es wäre
bekanntlich uns allen jede Lebensgrundlage entzogen! Der Staat
muß also die Wissenschaft dazu bringen, Fragezeichen durch
Zahlen zu ersetzen, die in Gesetze, Verordnungen und richterliche
Urteile eingehen können.
Im wesentlichen gilt noch
immer der Grundsatz: Man darf alles tun, solange konkrete
schädliche Folgen nicht wissenschaftlich nachgewiesen oder
wenigstens aufgrund wissenschaftlicher Argumente höchst
wahrscheinlich zu erwarten sind. Nun sind aber durch den
wissenschaftlichen Fortschritt die Meßmethoden für
Schadstoffe wie für Schäden immer empfindlicher
geworden, und obendrein sind natürlich durch den Fortschritt
der Zeit selbst immer mehr Risiken, die einem pro Jahr
vernachlässigbar erscheinen mochten, manifest geworden. Wer
stündlich eine neue chemische Verbindung herstellt, die es
vorher auf der Erde oder gar im Universum nicht gab, der ist
zunächst stolz auf seine Schöpferkraft. Hat man das
freilich hundert Jahre lang getan und immer mehr von diesen
Innovationen in wachsenden Mengen freigesetzt, dann zeigen sich
allmählich Probleme – zum Beispiel, daß etwa
stündlich eine lebendige Art ausstirbt, die zu ihrer
Entstehung Jahrmillionen brauchte. (Inzwischen mögen es nach
Aussage führender konservativer Biologen sogar schon eher
zehn Arten pro Stunde sein...)
Nun geht es also
offensichtlich darum, daß die Wissenschaft mögliche
Schäden einer technischen Innovation rechtzeitig abschätzt.
Auf dieser Basis sollen dann die Genehmigungsbehörden über
neue Projekte entscheiden. Leider liegt es aber im Wesen
komplexer Fragen, daß sich in ihnen auch Wissenschaftler
nicht leicht einigen – und schon gar nicht in Eile. Wenn
sie nicht so eng zusammenarbeiten, daß ihre Vorurteile und
Fehler identisch werden, werden sie bei der Abschätzung
eines Risikos im allgemeinen lauter verschiedene Zahlen finden.
Das hat freilich auch seinen Vorteil: Nun weiß man, wer die
kleineren Zahlen findet! Und damit liegt nahe, was zu tun ist, um
ein Projekt genehmigungsfähig zu machen: Man muß
Kommissionen aus jenen Wissenschaftlern berufen, bei denen die
Zahlen klein genug herauskamen!
Da die anderen
Wissenschaftler, jene mit den zu großen Zahlen, nicht in
der Kommission sind, also auch weniger Geld verdienen, gelten sie
fortan in der Öffentlichkeit und schließlich sogar
unter Kollegen als die schlechteren Wissenschaftler und als
weniger glaubwürdig. Obendrein kann das viele Geld, das
hinter den Projekten steckt, auch durch Förderung von
»Öffentlichkeitsarbeit« ein wenig nachhelfen,
daß sie als defätistische Fortschrittsfeinde oder
senile Pessimisten erkennbar werden. Daß sie nichts
wissenschaftlich Haltbares zu sagen haben, wird endgültig
klar, wenn die nationalen Kommissionen aus den Leuten, die
kleinere Zahlen produzieren, sich in einer noch höher
bezahlten internationalen Kommission vereinigt haben, die nun mit
dem definitionsgemäß höchsten Sachverstand die
Risiken quantifiziert und entsprechende Grenzwertempfehlungen
gibt. Spätestens dann ist der auf dem Verordnungsweg
gewonnene »Stand der Wissenschaft«
gesichert...
Damit kein Mißverständnis
aufkommt: In diesem Verfahren kann alles mit bestem Willen
geschehen. Korruption mag zwar oft naheliegen, ist aber fürs
Funktionieren keineswegs notwendig. Es genügt der
gesellschaftlich organisierte Wille zu schnellerer Innovation und
mehr globaler Vereinheitlichung. Diese Ideologie ist es, die die
projektfördernde theoretische Vereinfachung komplexer
Sachverhalte erzwingt. Hat sich erst einmal eine Gruppe
normalbegabter Wissenschaftler zu diesem Zweck zusammengefunden
und wird dafür zusätzlich gefördert, dann kommt es
auch ohne jede Beteiligung von »Bosheit« leicht zum
absurdesten, geradezu »kriminell« wirkenden
Verhalten. Die Geschichte ist voll von Beispielen. Auf einige
werden wir zurückkommen, doch wollen wir zuvor einigen
Fragen, die immer wieder auftauchen müssen, etwas
grundsätzlicher nachgehen.
Probabilistische
Risikoanalyse – Beispiel Kernenergie
Bei
genauerer Betrachtung wäre der Risikobegriff so komplex wie
das Leben. Nehmen wir das Beispiel »Risiken der
Kernenergienutzung«. Welche vorstellbaren Schäden soll
man überhaupt zu bewerten versuchen? Was soll man zählen?
Die unmittelbaren menschlichen Todesfälle? (»Beim
Unfall in Tschernobyl gab es 31 Tote.«) Oder die verlorenen
Lebensjahre, wenn der Tod nicht sofort, sondern erst später
eintritt? (Dann sind es durch Tschernobyl vermutlich Millionen
von Lebens-Jahren.) Oder die durch Gesundheitsschäden an
»Lebensqualität« ärmer gewordenen
Lebensjahre? Dann genügte ja das Zählen nicht, und man
müßte auch noch gewichten! Und was ist mit den
Erbschäden bei den Nachkommen? Mit den Schäden an der
Pflanzen- und Tierwelt? Mit etwaigen Einflüssen aufs Klima?
Was soll man da zählen oder wiegen? Und wie sollte man es
zum Beispiel werten, wenn beim weiteren Übergang zur
Atomenergienutzung zum Zwecke der Risikoverminderung die Macht
von Verwaltung und Polizei wachsen müßte, wenn etwa
aus Sicherheitsgründen, oder wegen der Proliferationsgefahr,
eine Art dauernden Ausnahmezustands entstünde? Wäre das
nicht vielleicht sogar positiv zu bewerten, gehörte also
eigentlich auf die Waagschale der Chancen, weil es Arbeitsplätze
im gehobenen Dienstleistungssektor schüfe, während ja
solare Energietechniken nur Arbeit in simpler Produktion und
Wartung und im Reparaturgewerbe brächten? Und schließlich
die scheinbar noch schwierigere Frage: Wie soll man denn
gesellschaftliche und biosphärische Folgen bewerten, wenn
sie erst in fernerer Zukunft zu erwarten sind?
Für
eine wissenschaftliche Risikodefinition sind solche
Gesichtspunkte natürlich ungeeignet. Hohe Komplexität
eines Systems bedeutet geradezu definitionsgemäß, daß
das Wesentliche nicht wissenschaftlicher Analyse zugänglich
ist. Wissenschaft beginnt zwangsläufig mit der Reduktion auf
hinreichend Simples. Meist reduziert sie das vielfältige
Risiko für Natur und Gesellschaft auf die Frage in der
obigen Tabelle: Wie wahrscheinlich ist es, daß Menschen
durch Freisetzung von Radioaktivität aus einer bestimmten
kerntechnischen Anlage getötet werden? Schon die Frage nach
Krankheiten, die nicht zum Tode führen, würde ein so
weites Feld eröffnen, daß man sie meist gar nicht erst
stellen mag.
Um wenigstens auf die einfachste Frage eine
Antwort zu finden, muß man abschätzen, wieviel
Aktivität freigesetzt werden wird – im angestrebten
»Normalbetrieb«, wie auch bei allen zu erwartenden
Zwischenfällen. Um den letzteren überhaupt Zahlen
zuordnen zu können, hat man die sogenannte »probabilistische
Risikoanalyse« entwickelt: Da die Ereignisse, die man
zählen müßte, in der bisherigen Praxis nur selten
oder noch gar nicht stattgefunden haben, versucht man auf dem
Papier alle möglichen Ereignisketten zu konstruieren, die zu
ihnen führen könnten. Dann versucht man, jedem Glied
jeder solchen Kette eine Wahrscheinlichkeit zuzuordnen –
entweder aufgrund von Erfahrungen mit verwandten Bauteilen und
Abläufen in anderen Anlagen oder notfalls durch Spekulation.
(Beispiele: Platzen eines Kessels? Versagen einer Dichtung
oder eines Ventils? Ausfall eines Meßinstruments?
Fehlerhafte Bedienung eines Schalters?) Nun muß man
untersuchen, wie weit die betrachteten Glied-Ereignisse
voneinander unabhängig sind – dann kann man die
Gesamtwahrscheinlichkeit jeder Kette ausrechnen und schließlich
die Wahrscheinlichkeiten aller Ketten addieren. Mit diesem
Verfahren kam man zum Beispiel zu der Aussage, ein Kernschmelzen
in einem deutschen Reaktorkern sei höchstens einmal in
zehntausend Betriebsjahren zu erwarten. (4)
Weiter geht‘s
dann mit Betrachtungen zum optimalen »Unfallmanagement«:
Wie kann durch Konstruktionsmerkmale (etwa die »Wallmann-Ventile«
zur gezielten »Druckentlastung« im Falle drohender
Explosion) und durch Verhaltensregeln fürs Personal dafür
gesorgt werden, daß mittels kontrollierter Freisetzung von
Radioaktivität eine eventuell noch katastrophalere
Freisetzung unwahrscheinlicher gemacht wird? Über solche
Verfahren einer neuen »nuklearen Sicherheitskultur«
wird öffentlich erst seit einer Konferenz (November 1988 in
München) gesprochen, auf der die weltweite Nuclear
Community gemeinsame Sicherheitsstandards zu formulieren
versuchte. Ein Zitat von dort: »Dem Streben nach Akzeptanz
für die Kernenergie ist es abträglich, wenn
Unterschiede zwischen den Sicherheitsniveaus verschiedener
Staaten existieren oder diskutiert werden.« (5)
Bemerkenswert ist auch die seither herrschende Sprachregelung:
Was ich hier noch »probabilistische Risikoanalyse«
nenne, heißt in der nuklearen Gemeinschaft nun
»probabilistische Sicherheitsanalyse« –
abgekürzt nicht mehr PRA, sondern PSA. So leicht läßt
sich »risk« durch »safety« ersetzen.
Die
mit viel gutem Willen ermittelten Wahrscheinlichkeiten für
bestimmte Typen von Unfallereignissen muß man nun als
Ausgangspunkt für weitere hypothetische Ereignisketten
nehmen: Welche Bruchteile des Inventars an verschiedenen Nukliden
werden in Luft, Wasser und Boden freigesetzt? Wie verbreiten sie
sich weiter? Wie werden sie von Lebewesen aufgenommen? Was
gelangt direkt oder über die Nahrungskette in den Menschen?
In welchen Organen wird es wie lange gespeichert? Wie wirkt sich
das schließlich auf die Gesundheit und die Erbanlagen der
Bewohner in verschiedenen Abständen vom Unfallort aus, und
wie viele Todesfälle, Krankheiten und Erbschäden werden
dadurch in verschiedenen Zeiträumen verursacht? Wenn
berufene Kommissionen diese Fragen beantwortet haben (von Fragen
nach anderen biosphärischen Folgen ganz zu schweigen), haben
wir endlich eine der Zahlen, die ein Fragezeichen in der Tabelle
ersetzen sollen! Gibt es Gründe, sie zu
glauben?
Restrisiko
Jeder
gibt zu, daß den Forschern schon bei der Abschätzung
der Unfallwahrscheinlichkeit wichtige Ereignisketten entgehen
müssen. Man spricht zwar vernünftigerweise oft nicht
mehr von Ereignisketten, sondern vom »Fehlerbaum«,
aber dieses Bild steht auf dem Kopf. Die Zweige eines Baumes
wachsen aus den Ästen, wie diese aus dem Stamm. Bei
Reaktorkatastrophen aber ist es umgekehrt: Das dicke Ende kommt
nach! Der Vorsitzende der deutschen Reaktorsicherheitskommission
behauptete einst in öffentlichen Vorträgen, die vielen
kleinen Verzweigungen möglicher Ursachenketten seien doch in
einer »Einhüllenden« enthalten – ähnlich
wie die Gesamtgestalt eines Baumes im wesentlichen schon durch
die Gestalt der großen Äste bestimmt sei. Das
verschwommene Bild sollte wohl der eigenen Beruhigung wie der des
Publikums dienen. Es sollte die Hilflosigkeit gegenüber der
Tatsache verschleiern, daß praktisch unendlich viele
verschiedene Linien von der »fraktalen« Außengrenze
des Baumes zum Stamm hin gezogen werden können. Die
»Ursachen« einer Katastrophe verzweigen sich in der
Vergangenheit in unermeßlich viele, aber oft nur scheinbar
immer »unwichtigere« Ereignisse. Die Enden, das heißt
die Anfänge dieser unendlich vielen Würzelchen, sind
schließlich »wirkliche Zufälle« (–
letztlich sogar die spontanen mikroskopischen Schwankungen, von
denen die Physiker reden). Um etwa die Wahrscheinlichkeit eines
großen Unfalls mit Freisetzungen aus dem radioaktiven
Inventar abzuschätzen, müßte man alle
verschiedenen möglichen Wurzelnetze eines solchen
Ereignisses erfassen. Die Menge der verschiedenen möglichen
Vereinigungen von Pfaden zur schließlichen Katastrophe ist
aber so unermeßlich groß, daß man nie sagen
darf, man habe den wesentlichen Teil davon mit einer
»Einhüllenden« gedanklich erfaßt.
Das
zeigt sich auch in der Praxis ganz deutlich: Der Weg zu vielen
der bekannt gewordenen Störfälle folgte
»unfallauslösenden Ereignisketten«, die zuvor in
keiner Risikostudie aufgetaucht waren. Die entscheidenden
Stellen, an denen meist durch raffinierte Wechselwirkungen
zwischen Mensch und Technik etwas »schiefging«, waren
niemandem eingefallen. Kein Wunder! Was einem vorher einfiel, hat
man ja meist durch technische und organisatorische Maßnahmen
bereits zu verhindern oder in den Folgen zu begrenzen versucht.
In einer komplizierten technischen Anlage, bedient von Menschen,
eingebettet in eine komplexe Gesellschaft und natürliche
Umgebung, müssen immer wieder Abläufe vorkommen, die
keinem Forscher vorher eingefallen sind. Darunter müssen
auch solche sein, bei denen sich winzige Fehler an unscheinbaren
Würzelchen zu unermeßlichen Folgen auswachsen. Die
Menge völlig verschiedener Wege zur Katastrophe ist also
unfaßbar groß. Wenn deshalb versucht wird, den
»unberechenbaren« Menschen weitgehend auszuschalten,
wird das aber im allgemeinen nicht besser. Ich muß nur
wieder daran erinnern, wie viele verschiedene Möglichkeiten
es gibt, ein paar Punkte durch gerade Striche miteinander zu
verbinden: Schon bei 24 Punkten ist die Anzahl der verschiedenen
möglichen Beziehungsmuster größer als die Zahl
der Atome im Weltall...
In der Zusammenfassung der
Tausende von Seiten umfassenden »Deutschen Risikostudie
Kernenergie« war argumentiert worden, die unvermeidbare
Unvollständigkeit bei der Erfassung der »auslösenden
Ereignisse« sei dadurch berücksichtigt und
ausgeglichen worden, daß man bei der Durchrechnung der
erfaßten Möglichkeiten besonders vorsichtig, ja
übermäßig »pessimistisch« vorgegangen
sei. Das heißt: Unbekanntes glaubt man dadurch zu
berücksichtigen, daß man das Bekannte besonders
sorgfältig anschaut! – Wer mit dieser Art von Denken
oder vielmehr Gedankenlosigkeit konfrontiert wird, beginnt sich
zu fragen: Welchen Teil des gesamten Risikos mag man wohl
überhaupt mit den üblichen Methoden der
probabilistischen Analyse erfaßt haben? Sind es über
99 Prozent oder ist es weniger als ein Prozent? Und siehe da: Es
gibt keine zuverlässige Antwort auf diese Frage! Das
Restrisiko könnte größer sein als alle bisher
theoretisch erfaßten Risiken zusammen – der
»Super-GAU« wahrscheinlicher als der »GAU«!
Was
antwortete der Forschungsminister auf solche Bedenken? Sie
brächten keine neuen Erkenntnisse! Ich solle doch bitte
etwaige Lücken der Studie »konkret und im einzelnen
aufdecken«. Darüber hinaus sei »längerfristig
durch den ständigen Vergleich der theoretischen
Untersuchungen mit den praktischen Erfahrungen zu prüfen, ob
sich neue Erkenntnisse ergeben können«. Mit anderen
Worten: Der in den Nebel Rasende ist nicht durch vage Vermutungen
zu stoppen, sondern nur durch Aufprall.
Wie sollen
Genehmigungsbehörden und Justiz aber auch mit dieser
Situation umgehen? Die »kleineren Zahlen« helfen doch
nichts mehr, wenn man zugeben muß, daß sie nur einen
unbekannten Bruchteil des gesamten Risikos betreffen. Die
sogenannten Wahrscheinlichkeiten sind dann gar keine, denn sie
sind nicht auf die Menge aller Möglichkeiten bezogen, das
heißt »nicht auf Eins normiert«, wie
Mathematiker sagen würden. Was tun mit dem nicht
abschätzbaren Teil des Risikos, den man das Restrisiko
genannt hat – in der Hoffnung, ein Rest sei ja schon
definitionsgemäß etwas Kleines? Nun bleibt nichts als
die Hoffnung auf Götter! Wie wird diese in einem Rechtsstaat
institutionalisiert? Natürlich übers
Verfassungsgericht! Dieses muß einfach bestätigen, daß
»nach den Regeln der praktischen Vernunft« das
Ungeahnte unberücksichtigt bleiben müsse und deshalb
das Restrisiko unabhängig von seiner Größe
»sozial akzeptabel« sei.
Damit wollte man
vermutlich nicht für akzeptabel erklären, daß
demnächst eine berühmte Stadt oder Landschaft
unbewohnbar wird (was ja bedeutet hätte, daß man
gerade den »Super-GAU«, der definitionsgemäß
noch schlimmer wäre als der »größte
anzunehmende Unfall«, für annehmbar erklärte –
oh, diese schillernden Wörter!). Zwar weiß man, daß
die Möglichkeit solcher Unfälle besteht und daß
eine Wahrscheinlichkeit für ihr Eintreten nicht vernünftig
abschätzbar ist – aber nach der »praktischen
Vernunft« ist die Sache trotzdem klar: Es wird schon
gutgehen! Sollten wir etwa doch Pech haben, dann sind wir
jedenfalls nicht schuld. Dann war es »höhere Gewalt«
– was auf englisch noch einleuchtender klingt: »An
act of God«! Das heißt: Kernenergie ist
verantwortbar. Auch im schlimmsten Fall wird man mit bestem
Gewissen erklären, warum man die entsprechenden Anlagen
trotz unvollständigen Wissens bauen durfte: »Nach dem
damaligen Stand der Wissenschaft war mit diesem Ereignis nicht zu
rechnen!« In der Tat: Mit etwas zu rechnen, wofür man
gar keine Zahlen hat, wäre doch absolut irrational! Mit dem
Restrisiko ist also nicht zu rechnen – und die
Verfassungsrichter, die schließlich auch keine andere
Vernunft als die praktische haben, müssen es für
akzeptabel erklären. Sonst liefe ja gar nichts mehr in
diesem Land!
Die tiefen Widersprüche in diesem für
mich immer wieder verblüffenden Denkprozeß scheinen
längst kaum noch jemandem den Schlaf zu rauben. Für die
Öffentlichkeit deutlich wahrnehmbar und dokumentiert wurde
er wohl erstmals im Zusammenhang mit der Frage der
Reaktorsicherheit (im Wyhl-Urteil des Bundesverfassungsgerichts),
aber das Prinzip dieses Verfahrens hat man mittlerweile auf
praktisch alle Bereiche der »Folgenabschätzung«
für technische und soziale Entwicklungen ausgedehnt. Wie
sonst könnte man denn auch mit dem Problem des Restrisikos
umgehen, nachdem sich herausgestellt hat, daß wir von
lauter »hausgemachten« Untergangssymptomen bedrängt
werden, die sich am Beginn der entsprechenden Hausmacherkünste
einmal als vernachlässigbare Restrisiken darstellten? Ein
bevorstehendes Umkippen des Erdklimas? Die Verdünnung der
Ozonschicht und die entsprechende Bedrohung alles Lebendigen
durch ultraviolette Strahlung? Der Abbau der Biosphäre durch
immer rascheren Untergang von Arten? Bis zum »Weltuntergang«?
– Lauter Restrisiken! Bleiben wir aber noch ein wenig beim
relativ simplen Beispiel der Kernenergie, weil hier die
Konsequenzen der sogenannten praktischen Vernunft leichter
erkennbar sind. Hier fallen ja unter das Restrisiko auch mögliche
Ereignisse, die gar nicht »ungeahnt« sind, die
vielmehr fast jedem sofort einfallen, gegen die man aber
praktisch ziemlich machtlos wäre – und mit denen man
trotz fehlender Zahlen irgendwie glaubt rechnen zu müssen.
Ein besonders eklatantes Beispiel ist die absichtliche
Freisetzung großer Mengen von Radionukliden durch gezielten
militärischen oder terroristischen Angriff. Wie
wahrscheinlich ist es zum Beispiel, daß ein gut
organisiertes Terrorkommando (vielleicht sogar entschlossen, sich
selbst zu opfern, um schnurstracks in den Himmel zu kommen) mit
Lastwagen in eine nukleare Anlage eindringt, mit Gas die
Bedienungs- und Wachmannschaften ausschaltet, an ganz bestimmten
Stellen eine von Kennern solcher Anlagen errechnete Menge von
Sprengstoff anbringt, durch Explosion einen möglichst großen
Teil des radioaktiven Inventars freisetzt, durch mitgebrachten
Brennstoff ein Großfeuer entfacht – und so eine Stadt
oder ein Land auf Generationen hinaus unbewohnbar macht? Hierfür
eine Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, hat noch nicht einmal
ein Wissenschaftler gewagt.
Für die Benennung dieser
Möglichkeit bin ich von Wissenschaftlern immer wieder
kritisiert, ja beschimpft worden. (6) So etwas dürfe man
nicht einmal denken! Warum nicht? Das ist in der Diskussion über
die Kernenergie klar: Schon diese eine Möglichkeit reicht
aus, um ohne jede quantitative Risikoabschätzung die
sogenannte friedliche Nutzung der Kernenergie für tabu zu
erklären! Allein wegen dieser Möglichkeit müßte
jede Anhäufung größerer Mengen radioaktiver
Nuklide an einem Ort grundsätzlich und für alle Zeiten
geächtet werden – denn durch keinerlei technische oder
organisatorische Mittel ließe sich ihre Freisetzung durch
dumme Zufälle, Schlamperei oder Absicht zuverlässig
ausschließen. Das macht die Kernenergienutzung zu einem der
simpelsten Beispiele für den vernünftig gebotenen
Umgang mit dem sogenannten Restrisiko: Dieses läßt
sich hier einfach auf Null reduzieren! – Oder finden die
praktische Vernunft und ihr Künstliches Gewissen etwa doch
noch Auswege, um die bedingungslose Kapitulation zu vermeiden?
Aber natürlich! Man muß die Sache nur von noch etwas
höherer Warte aus betrachten.
Vogelperspektive
In
den zehn Jahren seit dem Unglück von Tschernobyl starben auf
der Erde rund eine Milliarde Menschen. Davon dreißig bei
jenem bisher größten Atomunfall. Innerhalb des
nächsten Vierteljahrhunderts werden an die zweieinhalb
Milliarden Menschen sterben, das sind knapp halb so viele, wie es
jetzt auf der Erde gibt. Bei fast einer halben Milliarde davon
wird Krebs die Todesursache sein – doch höchstens etwa
einer von tausend bis zehntausend dieser Krebsfälle wird
wohl durch die aus der Ukraine stammende Radioaktivität
verursacht sein. Wer da nach zehn Jahren noch immer von
Tschernobyl redet, muß ein Panikmacher sein – oder
ein von Panikmachern Irregeleiteter. Gemessen an so viel
größeren, bedenkenlos akzeptierten Lebens- und
Zivilisationsrisiken sind schließlich einige zigtausend
oder sogar eine Million Opfer innerhalb einer
Menschheitsgeneration vernachlässigbar.
Dabei ist das
»Totezählen«, wie wir sahen, sogar noch
ungerecht gegenüber den Freunden der Atomenergie und anderen
Fortschrittswilligen. Auch der von Strahlung verursachte Krebs
tritt überwiegend erst nach Jahrzehnten, also in höherem
Alter auf. Es gehen also nicht ganze Leben verloren, sondern ein
paar Lebensjahre. Statistiker werden vorrechnen können, daß
auch die Zahl der durch Tschernobyl verlorenen Lebensjahre
gegenüber der Zahl aller von Menschen gelebten Jahre klar
vernachlässigbar sein wird. Schon das Wachstum der
Weltbevölkerung macht sie wohl mehr als wett.
Solche
Umlegung des Schadens auf die gesamte Menschheit muß ich
nicht neu erfinden. Sie ist gang und gäbe bei politischen
Anführern und ihren wissenschaftlichen Hand- und
Kopflangern, die mit ihren Weltverbesserungsplänen aufs
Ganze gehen. Diese Art der Betrachtung erzeugt eine ungeheure
moralische Kraft. Die Einsicht, man habe durch eigene Aktivitäten
zum Tod von Zehntausenden von Menschen beigetragen und noch weit
mehr bis in ferne Generationen mit gesundheitlichen Schäden
belastet – diese Einsicht löst dann keine unguten
Gefühle oder gar schlechtes Gewissen aus. Im Gegenteil: Das
Denken in großen Zusammenhängen ist erhebend! Man weiß
doch, warum man das alles tun mußte! Darf man nicht
letztlich sogar stolz sein? Hat man nicht Milliarden von Menschen
mit Energie und vielem anderen versorgt? Ihnen also geradezu das
Leben geschenkt? Hat nicht die ungeheure Mehrheit all jener, die
man nicht umgebracht oder geschädigt hat, das Überleben
eigentlich solchen Großtaten zu verdanken? Und wieviel mehr
könnte man für sie tun! Würde nur endlich mehr
Geld für Großforschung und Großtechnik
bereitgestellt.
Es gibt noch eine andere Art von
Menschheitswohltätern: Terroristen, die durch Attentate auf
Repräsentanten einer ungerechten Gesellschaftsordnung
endlich den Weg zum Wohl der Massen freibomben wollen. Merkwürdig
ist, mit welchem Haß die beiden Arten von Wohltätern
einander als Verbrecher ansehen. Kann einem nicht die
ideologische Motivation von Terroristen als nahe verwandt mit
jener der politischen, militärischen, wirtschaftlichen oder
wissenschaftlich-technischen Macher erscheinen? Beide fühlen:
»Wir wissen, wie die Welt besser wird! Aber ohne Opfer
geht‘s nun mal nicht. Wo gehobelt wird, fallen Späne
...«
Seltsam: Ich mußte immer wieder darüber
nachgrübeln, ob da nicht doch ein wesentlicher Unterschied
besteht. Eine Erleuchtung kam mir nach den Ereignissen von
Tschernobyl über einem Brief der Bonner Staatsanwaltschaft.
Ich hatte gemeinsam mit einem Anwalt Strafanzeige wegen
gemeinschaftlich versuchter schwerer Körperverletzung gegen
die deutsche Strahlenschutzkommission gestellt, weil diese in
ihren Begründungen für den Grenzwert des Jod-131 in
Milch nur jene wissenschaftlichen Arbeiten zitiert hatte, die
beruhigend wirkten. Bedenklichere wurden einfach unterschlagen.
Die Staatsanwaltschaft konnte dies natürlich nicht leugnen,
ließ mich jedoch wissen, sie sehe darin kein Anzeichen für
bewußtes Fehlverhalten. Da wußte ich endlich wieder,
was mir vor lauter abstrakten Erwägungen entfallen war: Es
gibt Gut und Böse! Der Unterschied liegt im Bewußtsein
der Täter!
Kein Staatsanwalt käme ja auf die
Idee, nach einem Terrormord mitzuteilen, es bestehe kein Anlaß
für straf-prozessuale Maßnahmen, weil bei einem
einzigen Todesfall unter Millionen von Einwohnern die mittlere
Belastung der Bevölkerung offensichtlich minimal gewesen
sei. Es sind eben nicht tödliche Folgen einer
Handlungsweise, die diese als Verbrechen definieren. Es ist der
Wille! Terroristen wollen ja töten, die Anführer
des technischen Fortschritts wollen dies normalerweise gewiß
nicht. Nur selten kommt es vor, daß sich begeisterte
Forscher an gesellschaftlich organisierte Verbrechen anhängen,
um deren Opfer dankbar als wertvolle Gaben für die
Wissenschaft auszuschlachten. So bereicherten etwa deutsche
Hirnforscher die wissenschaftliche Erkenntnis durchs Präparieren
von Gehirnen, die sie bei den Vollstreckern der »Euthanasie«
oder der »Endlösung« bestellten (...wo sonst kam
man an so viele interessante Gehirne...). Und die Forschung über
Strahlenwirkungen profitierte davon, daß man »vergessen«
hatte, beim Test der ersten amerikanischen Wasserstoffbombe
(namens »Bravo«) am 1. März 1954 die Einwohner
des dem Bikini-Atoll benachbarten Atolls Rongelap zu evakuieren,
so daß man endlich über eine hervorragend geeignete
Gruppe für Langzeituntersuchungen unter Bedingungen
erheblicher radioaktiver Kontamination verfügte... Wie
gesagt, so etwas kommt zwar vor, vielleicht sogar öfter, als
wir gemeinhin glauben, aber das Normale ist es gewiß nicht.
Nur Narren vermuteten sogar hinter dem Unglück von
Tschernobyl böse Absichten.
Dagegen sind die
Terroristen in der Tat direkt aufs Töten aus. An diesem
ihrem Bewußtsein erkennen wir sie als Verbrecher –
nicht etwa an der Menge der Opfer. (Ist diese besonders groß,
ist das zuweilen sogar der späteren Verehrung der Täter
in Nationalheiligtümern förderlich.) Eine Gemeinsamkeit
liegt freilich darin, daß beide Sorten von Weltverbesserern
fremdes Leben gegen Vorteile abwägen, die einer Gesellschaft
oder der ganzen Welt zugute kommen sollen. (Eigener Vorteil
spielt in der Motivation so edler Menschen natürlich keine
Rolle.) Beginnt hier nicht der Unterschied schon wieder zu
verschwimmen? Oder liegt er vielleicht darin, daß die Opfer
der Mörder schon beim Planen der Tat einen Namen haben, die
Opfer der Technokraten aber, wie die des Krieges, noch namenlos
sind? Aber nein, auch das kann es nicht sein. Wüten nicht
auch Terroristen immer öfter gegen namenlose Opfer? Als
Unterschied bleibt wohl nur: Die einen glauben doch wenigstens in
einer Ecke ihres Herzens an das Wunder, daß die
Weltverbesserung ganz ohne Opfer abgehen könnte, nicht wahr?
O weh! Auch das ist es nicht! Dann würden sie doch nicht
ständig vom Abwägen reden. – Auch die
Staatsanwaltschaft hat mir nicht geholfen. Ich bin wieder ganz
durcheinander. Müssen wir die Moraltheologen fragen?
Nun
gut – es gibt Förderer der Kernenergie, die wegen
Tschernobyl ein schlechtes Gewissen haben. Sollten wir es damit
nicht endlich genug sein lassen und nicht weiterhin so
nachtragend sein? Jeder kann einmal Fehler machen. Das muß
sogar sein. Ohne Fehler kann man nicht lernen. Zugegeben, das in
Tschernobyl war ein bedauerliches Ereignis, aber nun wird‘s
gewiß nicht wieder vorkommen. Es muß einmal Schluß
sein mit dem Wühlen in der Vergangenheit! Wenden wir uns der
Zukunft zu, die im eigenen Land liegt und in Europa. Was also ist
mit den eigenen Reaktoren?
Wer die
wissenschaftlich-technische Diskussion einigermaßen
verfolgt, der weiß, daß auch bei ihnen Unfälle
möglich sind, die ebensoviel oder gar mehr Radioaktivität
freisetzen könnten als die Katastrophe in Tschernobyl.
Selbst die schnelle Zerstörung des Sicherheitsbehälters
durch Explosionen von Dampf oder Wasserstoff ist nach Meinung von
Fachleuten im Fall einer Kernschmelze bisher nicht
auszuschließen. Die Menge möglicher »Verkettungen
unglücklicher Umstände« – von
unvorhergesehenen technischen Pannen über den durch
Bedienungsfehler bedingten gleichzeitigen Ausfall angeblich
unabhängiger Sicherheitssysteme bis zum böswilligen
Eingriff militanter Terroristen –, diese Menge von
Möglichkeiten ist grundsätzlich nicht hinreichend
übersehbar. Jeder Störfall kann eine neue Offenbarung
bescheren. Wieder etwas gelernt – aber nichts über den
nächsten.
Glauben Bürger und Politiker noch
immer den wahrscheinlichkeitstheoretischen Beschwörungsformeln
der Verkäufer? Nein, diese glauben selbst kaum noch, daß
es auf Dauer gutgehen wird. Vielleicht werden schon Wetten
abgeschlossen, welche europäische Großstadt oder
Landschaft als erste auf lange Sicht unbewohnbar wird. Zwar kam
Mütterchen Kiew nur durch die Hitze des Graphitbrandes im
Tschernobyl-Reaktor und durch die Gunst des Wetters, das für
die Verteilung über ganz Europa sorgte, gerade noch davon.
Zwar hatten viele weißrussische Städte und Dörfer
weniger Glück und müßten bei uns für
unbewohnbar erklärt werden (obwohl auch dort letztlich
weniger Menschen an Radioaktivität sterben oder leiden
werden, als an unserem ein halbes Jahrhundert zurückliegenden
Versuch, uns diese Gegend einzuverleiben). Aber all das läßt
sich aus der Vogelperspektive durchaus in Kauf nehmen. Es geht
allein ums verantwortungsvolle Abwägen von Chancen und
Risiken.
Die Europäische Kommission hat in den
letzten zehn Jahren führende Wissenschaftler daran arbeiten
lassen. Ein schönes Ergebnis ist beispielsweise der Bericht
(7) der »Ständigen Konferenz zum Thema Gesundheit und
Sicherheit im Atomzeitalter«, die zum Zwecke der
Akzeptanzförderung europäische Medienvertreter mit
Fachleuten von EURATOM nach Luxemburg einlädt. Dort wurde
unter anderem vorgerechnet, wieviel Strontium 90 nach einer
Katastrophe in einem westeuropäischen Reaktor etwa im Brot
zugelassen werden sollte, damit der finanzielle Verlust durch
Zusammenbruch des europäischen Getreidemarktes nicht den
Wert der Kinder und Erwachsenen übersteigt, die durch das
Essen von Brot wahrscheinlich an Krebs sterben. Das ist echtes,
wissenschaftlich begründetes Abwägen zwischen der
Anzahl von Toten (die noch nach Qualität zu gewichten wären)
und den volkswirtschaftlichen Schäden durch zu niedrige
Grenzwerte. Man sieht: Ist das Restrisiko des schweren Unfalls
erst einmal sozial akzeptiert, so wird es zum ganz normalen
Risiko, mit dem man endlich wieder rechnen darf! Auch der
weitere Ausbau der Kernenergienutzung ist so wieder voll
verantwortbar, wie die Bundesregierung zum zehnten
Tschernobyl-Gedenktag verlauten ließ. Niemand mehr muß
sich deshalb Gewissenlosigkeit vorwerfen lassen.
Nur Mut!
Verlieren wir nicht den Maßstab! Selbst wenn hie und da,
dann und wann, eine Großstadt aufgegeben oder ein
Landstrich verlassen werden und brachliegen müßte, so
wäre das beim Abwägen gegen die Vorteile einer
gesicherten Energieversorgung durchaus akzeptabel. Hand aufs
Herz: Selbst der schwerste Unfall wäre doch das Problem
einer Minderheit. Es war schon immer so, daß einige für
das Glück anderer leiden mußten. Arbeitsteilung ist
nun einmal das Grundprinzip unserer erfolgreichen Gesellschaft.
Wir werden schon Glück haben und zur glücklichen
Mehrheit gehören.
Einen wichtigen Punkt allerdings
sollte man im Zusammenhang mit der Akzeptanzförderung nicht
außer Acht lassen: Wegen des bekannten »Kindchenschemas«
und verwandter Mitleidseffekte sollte man nach Kräften dafür
sorgen, daß die Minderheit nicht identifizierbar ist. Es
empfehlen sich daher technische Maßnahmen, die mithelfen,
beim nächsten Unfall die Radioaktivität sogar noch
weiträumiger und gleichmäßiger zu verteilen, als
dies in Tschernobyl gelang. Hilfreich sind hierzu die Gedanken
des britischen Wissenschaftlers Bernard Sansom, die er (nicht
etwa in satirischer Absicht, wie ich erst glaubte) in der
Zeitschrift New Scientist vorstellte (8): Eine statistisch nicht
signifikante Zahl von Opfern sei nach den Regeln der Wissenschaft
eigentlich als nicht existent anzusehen. Konkret: Wenn
unter den an Krebs sterbenden Deutschen, gleichmäßig
verteilt, jährlich zusätzlich tausend durch Tschernobyl
oder ein ähnliches Unglück zugrunde gingen, wäre
dies wissenschaftlich gesehen gar kein existierendes Ereignis!
Logisch: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.
Nach
diesem Kriterium ergibt sich ganz praktisch und vernünftig:
Wir könnten uns vielleicht sogar im eigenen Land jedes Jahr
einen Unfall à la Tschernobyl leisten, wenn wir nur alle
Reaktoren schon beim Bau mit angemessenen Sprengladungen und
gewaltigen Scheiterhaufen ausrüsteten, die im Falle
radioaktiver Freisetzungen bei einem schweren Unfall sofort
automatisch gezündet und entflammt werden müßten.
Dann wäre dafür gesorgt, daß alle Schadstoffe
sogleich in große Höhen transportiert würden und
sich vor dem Niedersinken oder Ausregnen möglichst weltweit
verteilen könnten. Vom erkenntnistheoretischen Standpunkt
aus könnte es also die falsche Sicherheitsphilosophie sein,
wegen des Restrisikos auf besseres Containment zu setzen.
Nein, der bei unseren Reaktoren übliche Sicherheitsbehälter
vergrößert womöglich das Risiko eines
statistischen oder gar individuellen Nachweises von Unfallfolgen!
Ein faszinierender Gedanke.
Denken Sie nur: Die Welt
unserer Urenkel aus der Vogelperspektive: Zehn Milliarden
Menschen, mit zehntausend Atomkraftwerken (erzwungenermaßen
überwiegend Schnellen Brütern!) und den stillgelegten
dazu, und den Wiederaufbereitungsanlagen, und den Endlagern, und
all dem Herumkarren von Brennelementen und Plutonium und
Atommüll. Und dennoch: Sorgfältige globale
Gleichverteilung der Folgen unvermeidbarer Unfälle könnte
dafür sorgen, daß keinerlei Schäden statistisch
signifikant nachweisbar wären, denn auch Zehntausende
zusätzliche Tote pro Jahr gehen in der Gesamtzahl der
ohnehin Gestorbenen unter. Praktische Vernunft hätte so
nicht nur das Restrisiko abgeschafft, sondern sogar das
gewöhnliche Risiko großer Unfälle!
Diskontierung
der Zukunft
Nun könnten freilich bei
massivem, weltweitem Ausbau der Kernenergie doch irgendwann
einmal noch größere Opferzahlen auftreten, die selbst
mit optimalen statistischen Methoden nicht zu verbergen wären.
Mit so etwas ist zu rechnen. Und auch infolge ganz anderer
fortschrittlicher Aktivitäten, wie etwa chemischer und
biologischer Techniken, stehen uns wohl noch eindrucksvolle
Schadensereignisse bevor – ganz zu schweigen von den ohne
große Einzelereignisse allmählich immer deutlicher
werdenden Untergangssymptomen in Luft, Böden und Gewässern,
in der ganzen Biosphäre, ja sogar beim Klima und den
klimabedingten Meeresströmungen. Was da alles auf uns
zukommen könnte, beunruhigt ja auch bereits zutiefst die
Versicherungswirtschaft. Wir müssen deshalb noch kurz auf
die Frage zurückkommen, wie wir Schäden bewerten
sollen, die in fernerer Zukunft auftreten. Diese Bewertung ist
unerläßlich, wenn wir solche Schäden gegen
heutige Vorteile abwägen müssen. Glücklicherweise
hat die Wissenschaft (zu der sich auch die Volkswirtschaft zählt)
hierauf eine jedermann unmittelbar einleuchtende Antwort
gefunden: Wenn ich weiß, daß ich in hundert Jahren
Reparaturkosten von einer Million Mark zu zahlen haben werde, so
muß ich mich nur fragen: Wieviel Geld muß ich heute
zurücklegen, um dann die Schadenssumme begleichen zu können?
Die zurückgelegte Summe wird bis dahin um Zins und
Zinseszins anwachsen. Bei fünf Prozent Zinssatz wächst
sie in hundert Jahren aufs 132fache, bei zehn Prozent aufs
13781fache, und bei 15 Prozent aufs 1174314fache. Man sieht
sofort, daß es nicht angemessen wäre, für die
Bewertung künftiger Schäden den mickrigen Zinssatz der
Sparkassen, den Diskontsatz der Bundesbank oder gar die viel zu
niedrige Rate des allgemeinen Wirtschaftswachstums anzusetzen. In
der Tat benutzen Fachleute für solche Betrachtungen im
allgemeinen eher den Zinssatz für Risikokapital. Nehmen wir
doch ruhig einmal die 15 Prozent. Dann müssen wir für
den Millionenschaden in hundert Jahren heute nur 85 Pfennig
ansetzen!
Man bezeichnet diese plausible Methode der
Bewertung künftiger Schäden als Diskontierung.
An ihrem Erfolg erweist sich, fast noch eindrucksvoller als am
phantastischen Wachstum der Geldvermögen, die wundertätige
Macht des Zinses.
Dieses Prinzip ist für künftige
Schäden aller Art anwendbar. Es ist eine der entscheidenden
rechnerischen Hilfen des Künstlichen Gewissens. Ohne die
Diskontierung der Zukunft könnten wir uns fast nichts von
dem mehr leisten, was wir heute tun. Nun sehen wir aber zum
Beispiel auch, warum man es sich um die letzte Jahrhundertwende,
als Svante Arrhenius auf zu erwartende Folgen der atmosphärischen
CO2-Anreicherung
hinwies, leisten konnte, Warnungen in den Wind zu schlagen und
die Verbrennungsprodukte eines weiteren Jahrhunderts in den Wind
zu blasen. Wir verstehen auch, daß keinerlei
»Gewissenlosigkeit« dazu gehörte, Millionen von
Tonnen neuartiger Chemikalien und neuerdings sogar Lebewesen
freizusetzen, die nicht mit der irdischen Biosphäre
zusammenpassen. Schließlich konnte niemand ahnen, daß
die Menschen so leichtsinnig sein würden, ständig das
Geld abzuwerten, so daß unsere Rücklagen heute noch
immer nicht ganz reichen, um das Klimaproblem zu lösen, die
Ozonschicht zu reparieren und die ausgestorbenen Arten durch
bessere und vor allem besser zusammenpassende zu
ersetzen...
Verantwortung
– was ist das eigentlich?
Warum komme
ich nicht von diesem Sarkasmus los? Will ich Salz in die Wunden
streuen? Ist denn unsere Lage nicht schmerzhaft genug, ja
geradezu verzweifelt? Nein, ich bin voller Hoffnung und wollte
Sie nur ein wenig necken! Sarkasmus hat seinen Sinn, wenn andere
Möglichkeiten erreichbar sind: Die Neckerei soll an
lebensunfähig gewordenen Denkgewohnheiten nagen, damit diese
zusammenbrechen, bevor das Leben unter ihnen zusammenbricht. Nur
wenn es keine Auswege gäbe, wäre Sarkasmus grausam. So
aber ist er ein Aufruf zum Optimismus, Wenn es nämlich
gelingt, den Zusammenbruch der falschen Ideen im Kopf zu
bewirken, statt ihn in Biosphäre und Gesellschaft geschehen
zu lassen, dann werden erreichbare lebensfähigere
Möglichkeiten in Sicht kommen – und plötzlich
wird es wieder für alle etwas Sinnvolles zu tun geben!
Um
dies zu erkennen, müssen wir auch noch die Vogelperspektive
hinter uns lassen. Schauen wir die Sache aus noch größerem
Abstand an – sub specie aeternitatis, gewissermaßen.
Wie wir mit Chancen und Risiken umgehen müssen, wie sich
Verantwortung wahrnehmen läßt, das können wir
nicht von Verfassungsrichtern lernen. Diese müssen uns
selbstverständlich bestätigen, daß »nach
den Regeln der praktischen Vernunft« eine Minderheit von
Ängstlicheren oder Klügeren ein »Restrisiko«
in Kauf zu nehmen habe, wenn die Mehrheit das Spiel wagen will.
Wie sonst könnte die juristische Entscheidung aussehen?
Schließlich können nicht Richter darüber
urteilen, was Vernunft ist. Sie müssen voraussetzen,
daß die aufgeklärte Gesellschaft dies in
jahrhundertelanger Praxis herausgefunden hat! Jedes Recht braucht
eine ethische Grundlage, aber das Wort Ethos bedeutet
nichts anderes als Gewohnheit. In der Verfassung ist
geronnen, was sich bewährt hat. Auch der selbstverursachte
Weltuntergang wäre also verfassungsgemäß, denn
bis zu diesem wäre es ja gutgegangen. So einfach ist es: Bis
an den Rand des Abgrunds haben sich die verfassungsmäßigen
Regeln der Jagd zum Abgrund bewährt. Erst jetzt kann allen
klar werden, daß Zweifel an der Verfassung geboten
sind.
Treiben wir die Aufklärung ein bißchen
weiter. Es lohnt sich, die Spielregeln der Evolution anzuschauen.
Beim langwierigen Tasten zwischen Chancen und Risiken hat die
Wirklichkeit seit dem Anfang der Welt im Raum der Möglichkeiten
Gestalten gefunden, die immer wieder durchlaufen werden konnten,
die sich also am Abend eines Schöpfungstages als »sehr
gut« bewährt hatten. Wurden »am nächsten
Tag« noch höhere Gestalten gefunden, so geschah dies
nicht etwa durch Verlassen bewährter Attraktoren, sondern
vielmehr dadurch, daß im evolutionären Weitertasten
raffiniertere Verflechtungsmöglichkeiten zwischen diesen
entdeckt und erprobt wurden – bis sich am nächsten
Abend wiederum zeigte, daß auch auf dem höheren
Komplexitätsniveau »alles sehr gut« war. Diese
Bewertung geschah freilich nicht etwa durch Abwägen, sondern
allein durch den Erfolg, eben die Bewährung. Beim Hinschauen
zeigt sich ja, wie wunderbar durch das lange Probieren
schließlich alles zusammenpaßt, so daß immer
wieder dieselben attraktiven Gestalten durchlaufen werden können.
Die unvermeidbaren, letztlich zufälligen, kleinen
Abweichungen bewirken einerseits noch bessere gegenseitige
Anpassung, andererseits machen sie in vielfältigen Versuchen
die Entdeckung noch höherer Komplexität mit noch
schwächeren Wechselwirkungen wahrscheinlich. So findet die
Wirklichkeit »ganz von selbst« einen Weg –
immer höher hinauf in den Raum der Möglichkeiten, das
Reich der Ideen, die geistige Welt oder wie immer wir diesen
»Himmel« nennen wollen.
Wie wunderbar, dieses
Schöpfungsprinzip! Und doch, wie unglaublich einfach! Die
Sache kann insgesamt eigentlich nicht schiefgehen, möchte
man meinen, wenn man die Geschichte anschaut, nicht wahr? Oder
gibt es da etwa ein Restrisiko? Ja – die Geschichte ist
nämlich nicht zu Ende. Beim Übergang vom sechsten zum
siebten Tag wird eine unvermeidbare Krise erreicht, die
systemtheoretisch gesehen schon durchs Prinzip des evolutionären
Schöpfungsprozesses definiert ist. Ich nenne sie die
»globale Beschleunigungskrise«. Ihr Wesen ist leicht
zu verstehen: Höhere Innovationsgeschwindigkeit und größere
Organisationsform haben einen selektiven Vorteil. Deshalb wird
der Fortschritt immer schneller und zunehmend weltweit
vereinheitlicht. Für beide Prozesse gibt es aber aus rein
logischen Gründen kritische Grenzen. Räumlich ist das
klar, weil die Erde endlich ist und die Sterne viel zu weit weg.
Globaler als global kann die Organisation nicht werden. Aber auch
die kritische Innovationsgeschwindigkeit ist leicht zu entdecken:
Wenn die Anführer des Schöpfungsprozesses so schnell
geworden sind, daß sie wesentliche Züge des Ganzen und
ihrer selbst ändern können, bevor sie sich selbst
bewährt haben, dann kann es nicht mehr »aufwärts«
gehen. Immer unwahrscheinlicher wird es, daß Neues und
Altes zusammenpassen. Die bis dahin im evolutionären
Schöpfungsprozeß erreichte Komplexität wird
abgebaut.
Natürlich paßt dann auch der Mensch
nicht in seine neue Schöpfung. So viel ungewohntes Neues am
eigenen Leibe zu spüren und die sozialen Folgen im eigenen
Umfeld wahrnehmen zu müssen – das muß Angst
auslösen. Wohin aber soll man nun fliehen? Die Angst, der
alte nützliche Instinkt, wird in den Dienst der
fortentwickelten Kreativität gestellt. Die Flucht nach vorn,
zum achten Schöpfungstag, setzt ein. Das kollektive
Fluchtverhalten wird mit Hilfe höchster
Bewußtseinsleistungen immer raffinierter gesellschaftlich
organisiert. Die Organisationsstrukturen wachsen bis zur globalen
Skala an und verdrängen so die Versuche im Kleinen. Das
ermöglicht weitere Steigerung des Tempos beim gemeinsamen
Davonlaufen. Wie nennt man dieses Fluchtphänomen doch
gleich? Ach ja – Fortschritt! ... Nur schnell fort von
hier!
Wie dumm, daß dabei die Fehler wahrscheinlich
immer größer werden und sich immer schneller global
ausbreiten müssen. Das verträgt sich nicht mit den
logischen Voraussetzungen, unter denen früher, mit
unermeßlich vielen kleinen Fehlern, ganz allmählich
evolutionärer Aufstieg gelingen konnte, ja mußte: Es
fehlt an Vielfalt der Versuche und an Gemächlichkeit, um
auszuprobieren, ob wohl Neues und Altes zusammenpassen und ein
lebensfähiges Ganzes ergeben. Der Aufstieg muß deshalb
wahrscheinlich, ja praktisch zwangsläufig, in Abstieg
übergehen. Gemessen an den höchsten Gestalten, die im
Laufe des evolutionären Schöpfungsprozesses im Raum der
Möglichkeiten bisher erreicht wurden, das heißt
gemessen an unseren eigenen seelisch-geistigen Fähigkeiten,
kann also die Raserei wahrscheinlich nicht »aufwärts«
führen. Die Krone der Schöpfung wird zum
»Durcheinanderwerfer«. Das ist die Übersetzung
des griechischen diabolos. Immer schneller kommen wir
vorwärts und nähern uns endlich dem freien Fall –
eben weil der Weg nach bestem Wissen und Gewissen mit so vielen
guten Vorsätzen gepflastert ist.
Man kann vorm Teufel
nicht davonrennen. Seine Eile ist unübertrefflich. Und doch
läßt er sich besiegen! Die Einsicht in die
systemtheoretischen Ursachen der globalen Beschleunigungskrise
läßt uns den Weg dahin erkennen – und siehe da:
Wir wußten es eigentlich schon lange, denn seit Menschen
denken, haben sie dies im Ringen mit dem Problem der
Verantwortung gelernt. Deshalb berichten alle Mythen der
Menschheit davon.
Der Mensch ist wegen der Fähigkeiten,
die am sechsten Tag gefunden wurden, eben nicht nur für das
verantwortlich, was er ausrechnen kann, sondern vor allem für
das, was er nicht einmal ahnen kann. Wenn er die Verantwortung
fürs Ungeahnte abweist, ist er wirklich gewissenlos! Das
hört sich absurd an, ist aber ganz einfach: Die menschliche
Gesellschaft muß eine Verfassung finden, in der ungeahnte,
schnelle, globale Entwicklungen an den Wurzeln – an den
Erfolgen der ersten sechs Schöpfungstage – so
unwahrscheinlich werden, daß man sie wirklich guten
Gewissens als praktisch unmöglich betrachten darf. Was dafür
zu tun wäre, kann ich hier nicht auch noch erzählen.
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